Migration hat unser Leben bereichert
Semra Celik
Nicht nur die Tatsache, dass die Migration aus der Türkei nun schon 50 Jahre alt wird, sondern auch die angebliche Integrationsunwilligkeit der Migranten trägt diese in die aktuellen Medien. Welche Rolle spielt die Migration in Ihrem Leben?
Ich bin 1942 geboren worden. Ich hatte die Möglichkeit zu sehen, wie die Gastarbeiter aus Italien, Spanien, der Türkei und anderen Ländern nach Deutschland kamen und das Leben hier veränderten. Für mich persönlich ist es eine große Freude, dass wir unser jetziges buntes Leben gemeinsam gestaltet haben. Im Jahr 1963 habe ich für die Recherchen meines Buches „Wir brauchen dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben“ in verschiedenen Großbetrieben gearbeitet. Eine davon war Ford in Köln, in der auch mein Vater tätig war. Da ich Universitätsabsolvent war, wollten sie mich nur im Büro arbeiten lassen. Ich könne Karriere machen und müsste nicht im Betrieb arbeiten. Als ich darauf bestand, unter den schwersten Arbeitsbedingungen zu arbeiten, wurde ich vom Vorarbeiter, der zugleich ein Freund meines Vaters war, schützend darauf hingewiesen, dass dort nur die Ausländer arbeiten würden und es schade um mich wäre. Mit dieser Aussage wurde klar, welche Rolle diesen Arbeitern zugeschrieben wurde. Ich habe dies nicht akzeptiert und habe gemeinsam mit den migrantischen Kollegen gearbeitet. Zudem lebe ich seit vielen Jahren in Köln Ehrenfeld, ein Stadtteil, in dem der Migrationsanteil sehr hoch ist. Der positive Wandel durch die kulturelle Vielfalt ist etwas, was besonders betont werden muss im Zusammenhang mit dem 50.Jahr der Migration aus der Türkei.
Sie haben Einblicke in das Leben der Migranten mit ihren Reportagen ermöglicht. Können sie davon berichten?
Jeder sollte ohne Vorurteile sehen, wie die Migranten lebten, unterdrückt und ausgebeutet wurden. Sie waren bei meinen Reportagen bei Ford, Thyssen, Blohm & Voss dabei. Viele werden sich an den Streik bei Ford erinnern. Ganz vorne mit dabei waren türkeistämmige Arbeiter. Ich war auch dabei, wir wurden Freunde. Einer von ihnen wurde mit der Begründung, er sei in polizeiliche Ermittlungen geraten, von der Firma entlassen. Ich denke, dass dies ein Komplott gegenüber einem kämpfenden Arbeiter war. In meinem Buch „Ganz Unten“ wurde ich zu Ali. Meine Bekannt- und Beliebtheit zwischen den türkeistämmigen Arbeitern resultiert wohl daraus.
Deutschland benötigte billige Arbeiter. Die Menschen wurden aus verschiedenen Ländern her gebracht, als ob man Vieh von einem Viehhof kaufen würde. Damit sie arbeiten, den Gewinn steigern und dann wieder zurück geschickt werden. Ihr Leben und die Probleme, die auftauchten, interessierten niemanden. Sie wurden in scheunenähnlichen Heimen untergebracht. Das grausamste war die Unterbringung italienischer Arbeiter in einem Wohnheim, welches damals zum Dachauer KZ gehörte. Vor zwei Jahren, während einer Reportage mit Leiharbeitern, musste ich feststellen, dass die Arbeitsbedingungen der Migranten dieselben sind wie vor 40-50 Jahren.
Max Frisch sagte: „Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Menschen“. Dies gilt nicht nur für Migranten, sondern für alle Arbeiter.
Gibt es keine Probleme mit der Migration, den Migranten?
Natürlich gibt es diese. Wenn man bedenkt, dass bei einem Umzug, von einem in den anderen Stadtteil bereits Probleme entstehen können, kann man sich denken, welche Probleme auf einen zukommen, wenn man in ein Land geht, dessen Sprache, Bräuche, Kultur, Lebensweise etc. unbekannt ist.
Aber sie kamen zum Arbeiten. Es interessierte nicht, wie sie sich fühlten oder ob sie sich integrierten. Es kümmerte niemanden, als die Arbeiter ihren Weg vom Heim zur Arbeit bestritten. Die Probleme wurden sichtlich, als die Arbeiter ihre Ehepartner und Kinder zu sich holten, in Häusern wohnten, die Kinder in die Schule gingen. Doch Lösungen wurden keine geboten. Die Diskussionen darüber schürten Vorurteile. Die deutsche Regierung hat sich selbst nicht als Einwanderungsland angesehen und somit auch keine Integrationspolitik verfolgt. Wie es auch heute üblich ist, wurden die Migranten mit ihren Problemen zum Thema. Dies soll nicht heißen, dass es gar keine Bemühungen gab, jedoch gibt es keine fruchtende Veränderung, wie auch die Diskussionen über das Buch von Sarrazin zeigen. Die einzige Änderung ist, dass es nun die muslimischen Menschen sind anstelle der Migranten. Das erschreckende ist, dass Äußerungen wie „muslimische Migranten sind zurück geblieben“, „dumm“, „integrationsunwillig“… legitimiert und verbreitet werden. Die Beschäftigungspolitik, das Bildungssystem, die Profitgier der Unternehmen, die Wohnpolitik oder die fehlende Einsicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, werden nicht kritisiert. Für die Fehler werden die Migranten verantwortlich gemacht.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Türkei gegenüber den Migranten?
Die als Religionsministerium gegründete DITIB wurde seitens der deutschen Regierung als Gesprächspartner angenommen. Diese Entwicklung betrachte ich sehr kritisch. Sowohl Deutschland, als auch die Türkei stören den natürlichen Verlauf der Migration und das Zusammenleben im eigentlichen Sinne. Die türkische Politik hat mich schon immer interessiert. Ich habe verschiedene Aktionen in der Türkei gemacht, um die Folter und Unterdrückung zu entschlüsseln. Vor kurzer Zeit war ich wegen Dogan Akhanli in der Türkei und im Februar werde ich für Pinar Selek nach Istanbul reisen. Mir ist bewusst, dass auch die Türkei keine politischen Maßnahmen für die Migranten Arbeiter ergriffen hat. Auch die Situationen mit den Kurden oder anderen ethnischen Minderheiten sind gar nicht gut. Bei der Migration nach Deutschland bemühen sich beide Seiten sehr darum, in ihrem eigenen Interesse, Politik zu machen.
Wie sieht die Situation momentan in Deutschland aus und wie kann diese verbessert werden?
Trotz alledem glaube ich, dass es viele positive Entwicklungen in den 50 Jahren gab. Es gibt mittlerweile Menschen mit Migrationshintergrund in der Politik, Schriftsteller, Künstler, Lehrer, sogar Arbeitgeber. Ich werde immer betonen, dass unser Leben reicher, schöner und bunter geworden ist. Wir haben Probleme und mit dieser Politik werden wir sie noch immer haben. Das Bildungssystem muss geändert werden, es muss Armen- und Migratenkindern Chancengleichheit gewährleistet werden. Die ghettoisierende Wohnpolitik, die Beschäftigungspolitik usw. müssen geändert werden.
Wie sieht in Deutschland und Europa die Flüchtlingspolitik aus?
Sehr schlecht und menschenunwürdig. Die Einwanderung wird eingegrenzt. Die Flüchtlinge leben in sehr schlechten Verhältnissen. Ihre Asylanträge werden abgelehnt, sodass einige sofort abgeschoben werden und andere sich illegal im Land aufhalten. Sie dürfen nicht arbeiten, ihre Kinder können nicht zur Schule, sie können nicht einmal zum Arzt. Dies ist in ganz Europa so.
Ihr könnt die Migration aus Ländern mit Armut, Krieg, Diktatur nicht aufhalten. Auch wenn ihr die Türen schließt, die Mauern höher baut, werden die Menschen kommen.
Migration hat ihren Grund nicht in der Wirtschaft, sondern in der Politik. Jeder hat das Recht zu leben und jeder wird alles tun, um auf den Beinen zu bleiben. Um die Migration zu verhindern, gibt es in Griechenland, Libyen und anderen Ländern Auffangstationen. Dort sind die Lebensbedingungen, Unterdrückungen, Demütigungen erschreckend. Wir sehen in Europa immer öfter Boote mit Flüchtlingen, die untergehen. Wir sehen, wie arme Menschen gezwungen werden, mit Booten und Lastwagen zurück in ihre Heimat zu kehren. Wir sehen, wie diese Menschen vor dem Krieg, der Diktatur in ihrem Land flüchten. Diese Menschen werden in den Tod geschickt. Wenn man nur einen kleinen Teil der Gelder, die für Kriege und Rüstung ausgegeben werden, für den Kampf gegen Armut investieren würde. Wenn man gegen die Kriege, die für Profit geführt werden, gegen die Diktatur, die die Augen vor der Plünderung des Landes verschließt, eine Haltung einnehmen würde, könnte Migration verhindert werden.
Eigentlich sollte Migration erwünscht sein. Die Menschen, die sich hier wohl fühlen, arbeiten, zur Schule gehen und die gleichen Rechte besitzen wie alle, werden kein Integrationsproblem haben.
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