Böse Fatmas leben länger – 1982
Kurz nach unserer Rückkehr aus der Türkei 1979 musste meine Mutter ins Krankenhaus, weil die Babys in Gefahr waren. Ich glaube ja, dass die Gurkenwürfe von Opa Veli etwas damit zu tun haben, aber im Nachhinein kann ich leider nichts beweisen. Zwei Monate später wurden meine beiden Schwestern per Kaiserschnitt geholt. Die Angestellten im Uni-Klinikum Kiel hatten Angst meinem Vater zu sagen, dass er zwei Töchter bekommen hat, weil sie dachten er dreht durch. Tat er auch. Aber aus Freude. Mein Vater mag nämlich Mädchen. Er gab Bier und Sekt aus und feierte die Geburt seiner beiden Kinder.
Es stand kurz im Raum, ob man die beiden Ayse und Fatma nennt, aber mein Vater lies sich schnell davon abbringen. Rückblickend hätte er es ruhig machen sollen. Eine meiner Schwestern kommt wirklich nach Oma Fatma. Genauso böse, biestig und unbeliebt.
Das Beste an den Zwillingen war aber, dass meine Eltern sie als Vorwand nahmen nicht in die Türkei zu reisen. Die Busfahrt von Istanbul nach Antalya? Mit drei kleinen Kindern? Unmöglich! Also blieben wir in Deutschland. Mein Vater arbeitete wie ein Wahnsinniger, weil er Geld sparen musste, um die Gewächshäuser zu bauen. Außerdem hatte mein Onkel mütterlicherseits geschrieben und ihm von einem Grundstück erzählt, das zu verkaufen war. Er kaufte es und fing an darauf ein Haus zu bauen, in dem wir leben sollten, nachdem wir für immer in die Türkei zurückgekehrt waren.
Oma Fatma und Opa Veli beschlossen, den Bau des Hauses zu beaufsichtigen. Papa schickte Geld hin, sie hoben es ab und nach einem Jahr hatten sie ihr eigenes Haus renoviert. Auf unserem Grundstück stand nur ein Rohbau. Zwar versuchte mein Onkel immer wieder einzugreifen, doch Oma Fatma und Opa Veli ließen sich nicht ins Handwerk pfuschen. Einmal marschierten beide in das Elektrogeschäft meines Onkels, der einzige Laden weit und breit, der Kühlschränke, Herde, Ventilatoren und Gasflaschen verkaufte und meinen Onkel zu einem reichen Mann machte, und schrien ihn vor der Kundschaft an. Oma Fatma unterstellte ihm, Papas Geld zu klauen und davon Waren für seinen Laden zu besorgen. Opa Veli versuchte erfolglos einen Kühlschrank umzuschmeißen. Nach dem ganzen Theater nahmen sie ein Bügeleisen, ein Radio, eine tragbare Kühltasche und einen Tischventilator und marschierten ohne zu bezahlen raus. Oma Fatma rief noch, dass sie alles, was man für den Haushalt braucht geliefert haben möchte, damit man endlich quitt mit meinem Onkel ist.
Erschrocken machte mein Onkel seinen Laden zu und fuhr nach Hause. Unterwegs sah er Oma Fatma und Opa Veli am Straßenrand streitend nebeneinander laufen, kaputt von dem Diebesgut, das sie schleppten. Die beiden alten Menschen taten ihm leid. Er hielt an und fragte sie, ob er sie mitnehmen soll. Sie stiegen ein und fingen an, sich nun wieder mit ihm zu streiten. Nach einer Weile derbster Beschimpfungen hielt mein Onkel an und schmiss die beiden raus, doch Opa Veli stolperte beim Aussteigen und fiel hin. Auf dem Boden liegend fing er an zu schreien und behauptete, mein Onkel hätte ihn angefahren, weil er ihn als Geldunterschläger entlarvt hatte. Entnervt fuhr mein Onkel ihn ins Krankenhaus und trug ihn rein. Dort hielt er an seinem Vorwurf fest, zeigte immer wieder auf seine kleine Schramme und hatte mit Oma Fatma eine Zeugin, die ihn bestätigte. Mit Tränen in den Augen und ihrem Diebesgut unter dem Arm. Die Ärzte alarmierten die Polizei. Einige Augenzeugen bestätigten, dass es einen Vorfall im Laden gab und mein Onkel kam ins Gefängnis, wegen versuchten Mordes. Das war 1980, kurz nach dem Militärputsch in der Türkei. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, was damals in den Gefängnissen los war. Nach zwei Tagen schlug Oma Fatma meinem Onkel einen Deal vor: Wenn er ihnen umgerechnet 5.000 Deutsche Mark zahlt und wirklich einen Kühlschrank, eine Waschmaschine und einen Fernseher liefert, ziehen sie ihre Anzeige zurück und behaupten, der ganze Vorfall wäre ein Unfall. Widerwillig schlug mein Onkel ein und wurde freigelassen. Somit zahlte er teuer für seine Gutmütigkeit. Und er sollte noch öfter dafür bezahlen.
Diese und andere Schikanen von Oma Fatma erfuhren wir erst als wir im Frühjahr 1982 in die Türkei fuhren. Weil es das letzte Jahr vor meiner Einschulung war, wir länger nicht da waren und meine Großeltern mütterlicherseits alt wurden, beschloss meine Mutter sechs Monate da zu bleiben. Wenn man als türkischer Staatsbürger Deutschland länger fernblieb verlor man sein Aufenthaltsrecht. Also flogen wir in die Heimat, unter uns auch Hölle genannt. Nach einer erneut mühsamen Ankunft, kamen wir bei Oma Fatma und Opa Veli an. Selbstverständlich wussten die, dass sie zwei weitere Enkelinnen bekommen haben. Sie taten beim Anblick meiner beiden Schwestern aber so als wäre ihnen der Teufel persönlich begegnet. Oma Fatma rief: „Mein Gott, so hässlich und das gleich zweimal!!!“ Dabei waren meine Schwestern mit ihren Lockenköpfen und braunen Kulleraugen, und das gleich zweimal, wirklich goldig. Allerdings reagierten die beiden auch nicht besser. Beim Anblick ihrer Großeltern fingen sie an zu weinen und klammerten sich an Mama. Opa Veli fragte meinen Vater: „Sind das beides Mädchen? Kriegst wohl keine Jungs?“ Ich weiß nicht ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung war, weil er selbst seine Jungs hasste, seine Töchter zwar auch, aber nicht so sehr wie seine Söhne.
Oma Fatma erklärte, dass mein Vater und das Gepäck ins Haus dürfen, seine Weiber aber nicht. Sie hat schließlich gerade renoviert, da will sie nichts Hässliches drin haben. Entnervt nahm meine Mutter uns Töchter und ging zu den Nachbarn, die natürlich alles mitbekommen hatten. Man saß zusammen, trank Tee und alle klagten über die Bosheiten meiner Großmutter. Sie verschonte wirklich niemanden. Die Nachbarinnen erzählten uns, dass nach dem Militärputsch jeder, wirklich jeder Angst vor den Soldaten hatte, außer Oma Fatma, sie machte den Soldaten Angst. Ihr gehorchten sie mehr als ihren Befehlshabern. Sie hatte tatsächlich die jungen Männer dazu gebracht auf ihrem Feld zu arbeiten, die Kühe zu hüten und Hühner einzufangen. Ja, meine Oma hätte das Militär putschen können, wenn sie es gewollt hätte.
Am nächsten Tag wollten meine Eltern ihr neues Haus sehen, das Haus für das sie jahrelang gespart und viele Opfer gebracht hatten. Ihre Aufregung wandelte sich schnell in Wut. Denn es war nach wie vor ein Rohbau. Mein Vater rastete aus und stellte seine Eltern zu Rede: Was hatten sie mit seinem Geld gemacht? Ohne mit der Wimper zu zucken, erklärte Oma Fatma, das Geld hätte nur dafür gereicht. Sie hatte sogar was aus der eigenen Tasche draufgezahlt. Papa glaubte ihr nicht, was nun meine Oma aufregte. Flink holte sie einen Hammer aus der Ecke, fing an gegen die Wände zu schlagen. Die Wand blieb heil, aber ein Stück aus der Decke fiel raus und landete auf ihrem Kopf. Oma Fatma fing an zu schreien, wir Kinder auch, daraufhin brüllte mein Vater los, meine Mutter weinte leise und die Nachbarn lachten, über uns. Enttäuscht fuhren wir alle, inzwischen schweigend, ins Macardorf. Wir versuchten ins Haus zu kommen, Oma Fatma sagte, dass wir für jeden Tag, den wir da verbringen, Geld zahlen müssen. Sie hat von irgendjemandem irgendetwas über die Existenz von Hotels gehört und wendete das System gleich bei uns an. Mama lachte verbittert auf, daraufhin schubste Oma Fatma sie die Treppen runter, zwölf Steinstufen. Papa reichte es. Er holte unser Gepäck, also eher was davon übrig war und fuhr mit uns zu meinen Großeltern mütterlicherseits.
Oma Ünzile war ganz gerührt vom Anblick meiner Schwestern. Zwillinge, genauso wie bei ihren Schafen. Sie sagte, dass sie sich wünsche, ihre Kühe würden auch Zwillingskälber kriegen. Das wars. Sie sagte nicht mehr viel über uns Kindern und schon gar nicht zu uns.
Opa Izzet dachte zuerst an seine potentiellen Gesprächspartner und hoffte, dass die Beiden sich nicht ein Hirn teilen. Er prüfte sie aber nicht auf ihre intellektuellen Fähigkeiten, denn er war plötzlich mit mir beschäftigt. Entzückt darüber, dass ich inzwischen reden konnte, sogar Türkisch, und auch ein wenig denken, unterhielt er sich mit mir. Er wollte wissen, ob ich weiß, wer Atatürk ist, er brachte mir die türkische Nationalhymne bei, fragte mich nach meiner Meinung über die politische Lage in Deutschland. Erst fand ich es gut, dass mein Opa sich für mich interessierte, aber bald fand ich ihn uninteressant. Ich war fünf. Ich wollte mit meinen vielen Cousins und Cousinen in der Orangenplantage spielen, Krebsrennen veranstalten oder die Tiere ärgern, um so Oma Ünzile zu ärgern. Also antwortete ich gelangweilt ”Weiß nicht“, nun ich wusste es ja wirklich nicht, und tat extrem gelangweilt. Leicht bedauernd stellte Opa Izzet fest, dass ich immer noch dumm bin und widmete sich anderen Menschen, die mehr geistiges Potenzial besaßen.
Wir verbrachten wirklich eine wunderschöne Zeit auf dem Sommersitz der Familie meiner Mutter. Eingebettet zwischen mächtigen Bergen, weit und breit malerische Obst- und Gemüseplantagen, Tiere und Kinder. Kein Fernseher, kein Telefon, keine Autos, der nächste Nachbar eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt. Herrlich. Die Idylle wurde selbstverständlich von den Besuchen meiner Großeltern väterlicherseits überschattet. Regelmäßig kamen Oma Fatma und Opa Veli vorbei.
Einmal schlug Opa Veli bei seiner Ankunft sofort auf eine meiner Schwestern ein. Dem Schrei folgend kam meine Mutter angerannt und rettete ihr Kind. Oma Fatma wies sie zurecht und erklärte ihr, höfliche Menschen würden anderen nichts aus der Hand reißen. Opa Veli sagte nur, seit er in Pension gegangen ist, hat er kaum noch Gelegenheit Kinder zu schlagen. Er vermisse das sehr. Meiner weinenden Schwester bot er an, ihr zu verzeihen, wenn sie ihm ein Glas kaltes Wasser anbot. Dann stritt er sich mit Opa Izzet. Es ging darum, wer von den beiden klüger ist. Die Diskussion verlief ungefähr so: „Du bist dümmer als ich!“, ”Nein, Du!“, ”Nein, Du!“. Oma Fatma beendete die Zankerei, in dem sie erklärte, dass keiner so klug ist wie sie und wenn ihr jemand widerspricht, schlägt sie zu. Keiner widersprach.
Beim nächsten Besuch konfrontierten die Beiden meine Eltern mit der Tatsache, dass diese Kindergeld in Deutschland bekommen. Papa schaute sie fragend an. Oma Fatma antwortete: „Du bist unser Kind, also kriegen wir das Kindergeld. Und weil Du uns das Geld bisher unterschlagen hast, bekommen wir 50.000 DM.“ Und das Geld für ihre anderen sechs Kinder wollten sie auch haben. Mein Vater versuchte mehrere Stunden lang ihnen das Kindergeldsystem in Deutschland zu erklären, vergeblich. Es endete damit, dass wieder geschrien und geschlagen wurde. Positiv war nur, dass meine Schwestern sich inzwischen daran gewöhnt hatten und in solchen Situationen nicht mehr panisch weinten.
Mein Vater flog wieder zurück nach Deutschland, weil er arbeiten musste. Er kaufte vorher Unmengen an Lebensmitteln ein, damit wir niemandem eine Last sind und gab Mama Geld. Oma Fatma hatte aber inzwischen Wind davon bekommen. Sie kam vorbei, nahm alles mit, was Papa für uns besorgt hatte und mehr, klaute das Geld aus Mamas Handtasche und verschwand. Wir fielen dann meinem Onkel zur Last. Er hatte inzwischen auch die Aufsicht über unseren Hausbau übernommen. Komischerweise stand da tatsächlich ein Haus. So mit Fenstern, Fußböden und so. Das fanden wir gut. Oma Fatma auch. Sie beschloss, dass sie darin einziehen wird, schließlich würden alle in der Stadt behaupten, es wäre das schönste Haus weit und breit. Und Wessen Verdienst war das? Natürlich ihres. Also war es ja auch klar, dass sie darin wohnt. Sie bot uns sogar an, dass wir bei ihr wohnen dürfen, wenn wir in die Türkei kommen, für einen kleinen Unkostenbeitrag. Mama lehnte dankend ab, Oma nahm dankend an. Sie unterstellte Mama, dass sie ihre Schwiegermutter nicht im Haus haben möchte, damit sie jeden Abend fremde Männer empfangen und in Ruhe mit ihnen rummachen kann oder wollte sie das Haus ihrer eigenen Familie überlassen?
Bei einem weiteren Besuch beobachtete Oma Fatma uns Kinder beim Tanzen. Sie schaute eine Weile zu und sagte dann zu mir: „So wie Du aussiehst, wirst Du keinen Mann bekommen und so wie Du dich bewegst, wirst Du nicht mal eine tanzende Nutte in einem billigen Kasino. Was soll bloß aus dir werden?“ Ich hatte gelernt, keine Angst mehr vor ihr zu haben und antwortete: „Wenn Du einen Mann bekommen hast, werde ich sicherlich auch einen Idioten finden, sonst werde ich einfach Fatma und klaue, was ich brauche.“ Gut, die Ohrfeige tat echt weh, aber sie war es wert. Dieser Moment war ein historischer Augenblick für meine Beziehung zu meiner Oma. Ab diesem Zeitpunkt bekriegten wir uns. Mit Worten, mit Schlägen und mit sehr viel Hassliebe.
Böse Fatmas
1-) Böse Fatmas leben länger
2-) Böse Fatmas leben länger – Kapitel 1: 1977
3-) Böse Fatmas leben länger – 1979
4-) Böse Fatmas leben länger – 1982
Detaillierte Post auf SABAH AVRUPA – Die Türkische Tageszeitung.