Rote Linien braucht die NATO

Sevim Dağdelen

In der Diskussion über die Entsendung von Luftabwehrbatterien und Bundeswehrsoldaten in die Türkei ist viel von „roten Linien“ die Rede. Am Tag vor dem Beschluss der NATO, zusätzliche Truppen und Waffen in der Türkei zu stationieren, hatte US-Präsident Obama den Einsatz von Giftgas durch die Regierung Assad als solche rote Linie benannt. Sein Sprecher räumte ein, dass bereits Pläne für eine militärische Intervention der USA ausgearbeitet werden. Auch Anstalten, die Chemiewaffen an Verbündete abzugeben, würden die USA nicht hinnehmen. Wir haben schon in vergangenen Konflikten miterlebt, dass falsche Berichte über Chemiewaffen genutzt wurden, um einen Krieg vom Zaun zu brechen. Aktivitäten in den Lagerstätten wird es spätestens dann geben, wenn Assad die Waffen vor den vorrückenden Rebellen in Sicherheit bringen muss.

NATO-Generalsekretär Rasmussen und der deutsche Außenminister Westerwelle schlossen sich Obamas roter Linie an, als beim NATO-Gipfel die Verlegung der Patriots beschlossen wurde. Mit Blick auf die anstehende Abstimmung im Bundestag zogen sie jedoch eine eigene rote Linie: Die Patriots würden nicht zur Durchsetzung einer Flugverbotszone eingesetzt und „rein defensiven Zwecken“ dienen. Dazu will die Begründung des deutschen Verteidigungsministers de Maizière, warum das Mandat auch die bereits stattfindenden AWACS-Aufklärungsflüge umfasst, nicht so recht passen. Ein Mandat des Bundestags ist aus Sicht der Bundesregierung nur nötig, wenn die Einbeziehung in eine bewaffnete Auseinandersetzung zu erwarten ist.

Die grüne Partei hat bereits ebenso wie die SPD-Fraktion Zustimmung signalisiert, möchte hierfür jedoch eine weitere rote Linie gezogen wissen: Die Patriots sollten „nicht in direkter Grenznähe“ stationiert werden, „grundsätzlich“ gehe das vorgeschlagene Mandat jedoch „in Ordnung“. Wer die Funktion der Patriots kennt, weiss, dass diese Forderung eine Makulatur ist – demonstrativ vorgetragener Pseudo-Widerstand bei grundsätzlicher Zustimmung wie auch der angebliche Streit zwischen den Außenministern über eine offensivere Rolle der NATO in Syrien und gegenüber dem Iran. Ohnehin geht es im Mandatsentwurf „zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO“ bei weitem nicht nur um die Patriots. Die Aufgaben der 400 Soldaten sollen auch „Einsatzunterstützung, Führung und Aufklärung einschließlich der Beteiligung an internationalen militärischen Hauptquartieren“, „logistische und sonstige Unterstützung“ usw. umfassen. Die Patriots und das Personal der Bundeswehr werden dem Alliierten Oberbefehlshaber der NATO unterstellt, der zugleich Kommandierender der US-Streitkräfte in Europa ist, die gegenwärtig eine Intervention in Syrien planen. Es geht also um die Beteiligung an einem NATO-Truppenaufmarsch an der Grenze zu Syrien, während sich der Generalsekretär und mehrere NATO-Staaten bereits für eine Intervention ausgesprochen haben und die türkische Regierung sich eine solche bereits vom Parlament hat absegnen lassen. Von der Qualität her ist dieser Aufmarsch zugleich gegen den Iran gerichtet.

Begründet wird all dies als Bündnisverteidigung und Bündnissolidarität. Beides darf nicht bedeuten, den Verbündeten kopflos in jeden Krieg zu folgen. Die Bezugnahme auf Bündnisverteidigung verbietet sich, weil die NATO-Staaten seit Monaten offen und verdeckt die bewaffnete Opposition in Syrien unterstützen, täglich einen Regime Change einfordern und regelmäßig syrische Hoheitsrechte verletzen. Durch die Entsendung der Patriots will die Bundesregierung „die Verlässlichkeit Deutschlands als Bündnispartner“ demonstrieren, während ihre Verbündeten einen Krieg vorbereiten. Damit werden in diesem Fall v.a. die gefährlichen Hegemonialansprüche der Türkei in der Region und ihr Kampf gegen die kurdische Autonomie gestützt. Wer „Verlässlichkeit“ demonstrieren will, wird die Soldaten nicht dann abziehen, wenn sie wirklich „gebraucht“ werden, wenn nämlich die Verbündeten losschlagen.

Die NATO ist längst ein militärisches Offensivbündnis geworden und die Schwelle zum Einsatz sinkt immer weiter. Es sind zunehmend einzelne Staaten, die einen Krieg vom Zaun brechen und mit Unterstützung der NATO rechnen können. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten und auch die Oppositionsparteien in Deutschland sind dazu übergegangen, ihre Beiträge zu diesen Interventionen quasi routinemäßig abzunicken. In diesem Umfeld hat sich eine Strategie der NATO entwickelt, die keine roten Linien mehr kennt. Gerade im Nahen und Mittleren Osten und angesichts der angespannten Lage mit dem Iran und Russland ist diese Strategie ein Desaster.

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