Braune Substanz
Arnold Schölzel*
Aus der Polizei heraus erhielten die Neonazis von Jena Warnungen, wenn eine Razzia bevorstand. Als bei einer Hausdurchsuchung 1998 funktionsfähige Rohrbomben und Sprengstoff gefunden wurden, verhaftetet niemand den Faschisten, dem der Durchsuchungsbeschluss gezeigt worden war. Zielfahnder, denen drei Jahre später die Verhaftung der drei Jenaer Terroristen untersagt wurde, beschwerten sich nicht, es gab nur den Vermerk, das Trio werde von einer Behörde geschützt. Das ist in der Bundesrepublik Normalzustand.
Verschärft gilt dasselbe für die deutschen Geheimdienste: In den ostdeutschen Bundesländern bauten die nach 1990 aus dem Westen importierten Verfassungsschützer die Organisationen gewalttätiger Neofaschisten tatkräftig mit auf. Über die Chefs der braunen Truppen flossen Hunderttausende D-Mark aus den Staatskassen, Konzerte mit Faschistenbands wurden subventioniert. Der frühere stellvertretende NPD-Vorsitzende von Nordrhein-Westfalen und V-Mann, Wolfgang Frenz, berichtete 2002 nach seiner Enttarnung, seine Kontaktleute zum Landesamt für Verfassungsschutz seien durchweg Brüder im Geiste gewesen bis auf einen, „der auschwitzgläubig blieb“.
Noch mehr braune Substanz existiert in der deutschen Justiz. Oder wie ist zu erklären, dass in den letzten 20 Jahren mindestens 140 Menschen von Neonazis ermordet wurden, ohne dass irgendein Staatsanwalt auf die Idee kam, es könnte da einen Zusammenhang geben. Eine Antwort lautet: Die Beschäftigung mit „linkem Terror“ war vorrangig, z. B. als in Berlin in diesem Jahr Autos brannten. Mit hohem personellem, technischem und sonstigem Aufwand wurden die Ermittler bisher eines jungen Mormonen, der als Asket lebte und frustrierte war, habhaft, eines angetrunkenen Pärchens und einiger Zehnjähriger, die auch mal kokeln wollten.
Braune Ideologie aber ist bei den politisch Verantwortlichen dieses Landes Alltag. Sarrazin ist im Vergleich zum Gewohnheitsrassismus fast eine Randfigur: Der soziale Rassismus gegen die da unten, die „Sozialschmarotzer“, war stets kombiniert mit dem gegen Arbeiter aus anderen Ländern, die „Einwanderer in Sozialsysteme“. Die gesamte Innenpolitik war in wiederkehrenden Schüben allein damit befasst.
Das alles besagt: Staatlich gelenkte oder staatsnahe Terrorgruppen sind fester Bestandteil der bundesdeutschen Gesellschaften, ja kapitalistischer Gesellschaften insgesamt. Das gilt besonders in Zeiten der Krise und dort, wo starke Organisationen der Arbeiterbewegung existieren. Die Spaltung der Lohnabhängigen, die präventive Aufstandsbekämpfung mit allen Mitteln – auch Kapitalverbrechen – zieht sich durch die Geschichte wie ein roter Faden. Lenin hat dies am Beispiel der Pogrome dargestellt, die von den „Schwarzhundertern“ im zaristischen Russland verübt wurden. Die Weimarer Republik wurde von Kapital und Junkern den deutschen Faschisten übergeben, die den deutschen Staat in einen Verbrecherstaat verwandelten, dessen oberstes Ziel die physische Vernichtung der Arbeiterbewegung und des Sozialismus war. Nach 1945 haben westliche Staaten im Zeichen der „Demokratie“ und des Antikommunismus immer wieder auf Todesschwadronen und Folter gesetzt – an der Spitze die USA. Es geht dabei nicht nur um die Operationen im Südamerika der 60`er und 70`er Jahre, sondern auch um Mordaktionen und Massaker in den Hauptländern der „westlichen Wertegemeinschaft“. Die NATO-Staaten schufen sich von der Türkei über Griechenland, Italien, Bundesrepublik bis Spanien in der Zeit des Kalten Krieges ein Netzwerk unter dem Titel „Gladio“, das in mehreren Ländern in die schwersten Attentate der Nachkriegsgeschichte verwickelt war.
Das alles liegt mehr oder weniger offen zutage, dennoch geben sich Politik und Medien von der neonazistischen Mordserie überrascht. Ihre nicht gerade überraschende Erkenntnis lautet: Der Sozialismus war schuld. Am 18. November hieß es z. B. in der Welt: „Die Neonazitaten sind eine Spätfolge der DDR mit ihren Tabus“. Das Springerblatt hatte schon zuvor von „Dunkeldeutschland“ geschrieben, aus dem die Mörder gekommen seien. Am 21. November schrieb Anetta Kahane in der taz: „Das Nationale aus dem Westen und der Sozialismus begannen eine Affäre, die schließlich im Rechtsextremismus der erneuerten NPD Hochzeit feiern konnte.“ Die NPD wurde 1964 gegründet. Zwei Jahre später wurde – mit Hilfe der SPD – in Bonn mit Kurt-Georg Kiesingern (CDU) ein Altnazi Bundeskanzler.
Wenn ihnen nichts mehr einfällt, kommen sie mit der DDR. In der Bundesrepublik gilt seit jeher das staatsoffizielle „Rot gleich Braun“, man spricht von „Nationalsozialismus“, nie von Faschismus. Man weiß warum: Man müsste über sich selbst sprechen.
* Chefredakteur der Tageszeitung „Junge Welt“
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