Erst bestrafen, dann verurteilen
Ihsan Caralan
Dass die Regierung mit ihrer Politik in der kurdischen Frage zu keiner Lösung im Stande ist, wir immer deutlicher. Im gleichen Maße weiten mit Sonderrechten ausgestattete Staatsanwälte ihre Operationen gegen die KCK aus. Im Zuge dessen werden Kreisvorsitzende der BDP und deren Kommunalpolitiker, aber auch Intellektuelle, Demokraten und Kulturschaffende verfolgt und verhaftet.
Der Ministerpräsident hatte sich am 20. Oktober mit Medienvertretern getroffen, um sie dezent an ihre Verantwortung einer „pflichtbewussten“ Berichterstattung in dieser Frage zu erinnern. Danach wiesen wir darauf hin, dass alle, die sich für den Frieden, die demokratische Lösung der kurdischen Frage, die Brüderlichkeit von Türken und Kurden einsetzen, schnell dem Vorwurf ausgesetzt sein würden, die separatistische Terrororganisation zu unterstützen. Jetzt sind wir ein ganzes Stück weiter auf diesem Weg. Die Forderung nach Frieden, Demokratie und Brüderlichkeit ist inzwischen mit einem Verbot belegt.
Zunächst wurde die Hochschulprofessorin Büsra Ersanli und der Publizist und Autor Ragip Zarakolu verhaftet. Zarakolu, der auch Kolumnist unserer Zeitung (Tageszeitung „Evrensel“, Bem. d. Übersetzers) ist, sitzt gleichzeitig dem Komitee „Für die Freiheit von Publizistik“ des türkischen Verlegerverbandes vor. Man weiß zwar noch nicht, was den beiden Intellektuellen vorgeworfen wird, es wurde jedoch bekanntgegeben, dass die Haftbefehle gegen sie im Zusammenhang mit den KCK-Operationen stehen.
In unserer Zeitung titelten wir dazu: „Jetzt sind die Stifte des Friedens an der Reihe“. Denn die KCK-Operationen haben mit jeder Welle breitere Kreise erreicht. Sie werden
immer mehr ausgeweitet, der Ausgang soll offen sein. Es gibt inzwischen keinen Überblick mehr darüber, wann sie gestartet wurden, wann sie enden sollen und wie viele Personen bis jetzt davon betroffen sind. Das Ziel ist eindeutig: die gesamte Gesellschaft und jeden, der beharrlich die demokratische Lösung der kurdischen Frage fordert, unter Druck zu setzen. Ob die Beschuldigten mit der KCK zusammenarbeiten oder nicht, soll dabei keine Rolle spielen. Die Staatsanwaltschaft und die hinter ihr stehende politische Macht versucht damit, alle demokratischen und friedenliebenden Kräfte und deren Bemühungen im Keime zu ersticken.
Den Verhafteten wird vorgeworfen, KCK-Mitglieder zu sein und die Terrororganisation zu unterstützen. Man legt aber für diese schwerwiegenden Beschuldigungen keine Beweise vor. Mitglieder, Mandats- und Funktionsträger einer legalen Partei wie der BDP werden reihenweise verhaftet, sowie Intellektuelle und Journalisten, die mit ihr nichts zu tun haben.
Die Ermittlungen werden unter dem Motto „erst verhaften, Jahre lang in Gefängnisse stecken, danach versuchen, mit immer neuen Operationen Beweismittel aufzutreiben und schließlich verurteilen“ geführt. Dabei ist man sich bewusst, dass die Strafe auf jeden Fall vollzogen worden ist, selbst wenn es am Ende zu einem Freispruch kommt.
Dieses Rechtsverständnis, hinter dem auch die AKP-Regierung steht, muten wie Überbleibsel aus früheren Kolonialstaaten an. In der Tat wurden in den 1950ern und 60ern in Ländern wie der Türkei alle demokratischen Kräfte verfolgt. Die Verfolgerstaaten wurden von den Westmächten als Demokratien anerkannt und unterstützt. Auch heute werden die AKP-Regierung und die Türkei als Hochburgen der Demokratie angepriesen. Diejenigen, die sich dieser Regierung entgegenstellen und Demokratie und Frieden einfordern, als Terroristen oder zumindest deren Unterstützer beschuldigt.
Es muss die Frage gestellt werden, ob es in einem Land, in dem mehr oder weniger von Demokratie die Rede ist, ein Rechtssystem geben darf, das nach der Maxime „erst bestrafen, dann verurteilen“ handelt. Diese Frage wird aber in der Türkei immer weniger gestellt. Denn viele mit gesundem Demokratieverständnis empfinden diese Frage als Ausdruck von Naivität. Denn die meisten wissen, dass in einem Rechtsstaat die Staatsanwälte mit Sonderrechten und Angehörige von Sondergerichten sich mit diesen Fragen nicht beschäftigen.
Da fragen sich dann viele eher, wohin das führen soll?
Wenn man sie gewähren lässt, wird das wohl dazu führen, dass das Problem in einer vollständigen Ausweglosigkeit endet und die türkisch-kurdische Brüderlichkeit einen irreparablen Schaden erleidet. Am Ende wird also mehr Gewalt und Krieg stehen.
Die Völker, demokratische Kräfte und all jene, die auf dem friedlichen und brüderlichen Zusammenleben beharren, werden sie jedoch nicht gewähren lassen. Sie werden sich dieser Aufgabe stellen. Die ausgeweiteten KCK-Operationen machen ihren Einsatz wichtiger.
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