Chaos im Ergenekon-Prozess

Gestern fand vor der 13. Großen Kammer für schwere Straftaten in Silivri Istanbul der 270. Verhandlungstag im Ergenekon-Prozess statt. Vor dem Gericht stehen 275 Angeklagte, davon befinden sich 67 in Untersuchungshaft. Die Anklageschrift umfasst 120 Millionen Seiten und ist eine Zusammenfassung von 21 Fällen. Nach vier Jahren seit Verhandlungsbeginn wurden die Plädoyers der Anwälte und Staatsanwälte, sowie die Urteilsverkündung erwartet.

Bevor der Gerichtsvorsitzende Hasan Hüseyin Özese den Staatsanwälten das Wort überlies, las er einige Dokumente vor, die dem Gericht vorgelegt wurden. Der Staatsanwalt Mehmet Ali Pekgüzel, der erst am Nachmittag das Wort ergreifen konnte, beantragte, dass bei der großen Nationalversammlung der Türkei schriftlich die Unterlagen des Putschs und Memoranden der Untersuchungskommission eingefordert werden. Özese registrierte, dass einige Dokumente vom türkischen Geheimdienst MIT den Akten beigefügt wurden. Außerdem gab Özese bekannt, dass gegen fünf Angeklagte, die beschuldigt werden Alparslan Arslan Waffen beschafft zu haben, eine weitere Anklage wegen “Waffenbeschaffung für eine Terrororganisation“ eröffnet wurde und diese Anklage mit dem Ergenekon-Prozess zusammengelegt wird. Als er verkündete, die Anklagepunkte des neuen Falles zu verlesen, kam es zu Tumulten im Gerichtssaal. Die Anwälte protestierten dagegen und der Sprecher der Verteidiger, Celal Ülgen, wollte wissen, wie das Gericht weiter verfahren werde. Özese, erklärte daraufhin, dass zuerst die neuen Anklagepunkte verlesen und dann die Staatsanwälte gefragt werden, ob sie Anträge zur Erweiterung der Ermittlungen haben und ob ihre Abschlussplädoyers fertig sind. Ein anderer Anwalt, der sich zu Wort meldete, wurde nicht gehört. Der Anwalt Vural Ergün, stand auf und sagte drei Mal “Die Verteidigung möchte das Wort haben“, was Özese als Slogan bewertete und ihn durch die Gendarmerie aus dem Saal entfernen lies. Daraufhin kam es zu Unruhen im Raum. Als die anwesenden Prozesszuschauer mit Applaus protestieren, mussten auch sie raus aus dem Saal. Der Prozess wurde daraufhin unterbrochen. Als am Nachmittag die Anklagepunkte verlesen wurde, wehrten sich die Anwälte mit Beifall und Faustschlägen dagegen. Die inhaftierten Angeklagten Ilker Başbuğ, Hurşit Tolon und Hasan Iğsiz verliessen den Raum. Erneut kam es zu einer Unterbrechung und der Prozess wurde um 15.15 Uhr weitergeführt. Özese wollte mit den Untersuchungsberichten über die Harddisk fortfahren, allerdings protestierten die Anwälte erneut, weil sie sich nicht zu Wort melden durften. Auch der Staatsanwalt Pekgüzel bekam nicht die Möglichkeit etwas zu sagen. Um 15.28 Uhr kam es zur nächsten Unterbrechung.

Danach erklärte der Richter Sedat Sami Haşlıoğlu, dass die Aussagen von den Generalen Ibrahim Frıtına, Öden Örnek und Aytaç Yalman im Rahmen der “Putsch Tagebücher“ Untersuchung der Republikaner Staatsanwaltschaft in Istanbul von 2009 der Anklageschrift beigefügt wurden. Die Verhandlung mit den Plädoyers der Anwälte wurde auf heute verschoben.

Die Unruhen beschränkten sich nicht nur auf den Gerichtssaal, sondern auch davor kam es zu Tumulten. Tausende Anhänger der CHP, Arbeiterpartei und der Volksrettungspartei, sowie der Atatürk Denker Verein, versammelten sich vor dem Gericht in Silivri, um ihre Solidarität mit den Angeklagten zu bekunden. Als einige Gruppen versuchten, die Barrikaden zu überwinden, wurden sie von Wasserwerfern und Pfefferspray aufgehalten.

Zum Hintergrund:

Am 12 Juni 2007 führte ein anonymer Anruf die Ermittler in eine Wohnung im Istanbuler Stadtteil Umraniye. Bei einer Hausdurchsuchung wurden Handgranaten, TNT-Stangen und Zünder, sowie Dokumente gefunden, die Mitgliedern einer nationalistischen Geheimgruppierung zugeordnet werden konnten.

Bei dieser Verschwörergruppe, Ergenekon genannt, soll es sich um Ex-Funktionäre des Militärs, hochrangige Sicherheitsbeamte, Journalisten, Professoren und Unternehmer handeln, die aus dem Untergrund agierend den Umsturz der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan vorbereitet haben sollen. Die Organisation soll als “tiefer Staat“ im Staat existiert haben und Ende der 90er Jahre um eine “zivile Abteilung“ erweitert worden sein. Die Anklage wirft Ergenekon vor, für mehrere Anschläge verantwortlich zu sein und Attentate unter anderem gegen den Ministerpräsidenten Erdoğan, den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und den Journalisten Fehmi Koru geplant zu haben

Um die Regierung zu stürzen, soll die Organisation einen aus vier Phasen bestehenden Putschplan erarbeitet haben. Sie sollen für die Umsetzung ihrer Pläne mit terroristischen Einheiten wie PKK, MLKP, DHPK-C und Hisbollah zusammengearbeitet haben. Bei den Ermittlungen stieß die Polizei auf die Tagebücher des pensionierten Admirals Örnek, der darin zwei Staatsstreiche festgehalten hat, die er mit anderen zusammen 2004 geplant  hatte. Einen dritten Plan des Putsches fand die Polizei bei dem pensionierten General Şener Eruygur, der auch Vorsitzender des “Verbandes des Denkens Atatürk“ war und Demonstrationen gegen den Staat organisiert hat.

Am 14. Juli 2008 wurde vor der 13. Großen Kammer für schwere Straftaten in Istanbul Anklage gegen 86 Personen wegen Versuch zum Umsturz der Regierung, Mitgliedschaft oder Unterstützung einer bewaffneten Organisation, Besitz von Sprengstoff, Unterschlagung von Geheimdokumenten, Anstachelung zu militärischem Ungehorsam und öffentlicher Aufruf zu Hass und Feindschaft des Volkes erhoben. In den letzten vier Jahren ist die Zahl der Verdächtigen auf 275 gestiegen, die Seitenzahl der Anklageschrift auf über 120 Millionen Blätter angewachsen – es scheint fast unmöglich die Verschwörungen und die Verdächtigen zu überblicken.

Der Name Ergenekon (steiler Hang) bezieht sich auf die Ergenekon Legende, den Abstammungsmythos der Türken. Nach chinesischen Überlieferungen wurden die Göktürken von den Tataren angegriffen und vernichtet. Nur ein Junge überlebte das Massaker. Eine Wölfin nahm ihn an, rettet ihm das Leben und gebar ihm zehn Jungen, die zehn Stammväter der Türkenvölker im heutigen Zentralasien. Sie lebten in einem Tal, eingeschlossen von mächtigen Bergen, der von Erzadern umflossen war. Als dieses Tal dem Turkmenenvolk zu eng wurde, brachten sie das Erz zum Schmelzen, entkamen aus dem Tal und rächten sich an den Tataren. Ergenekon und die grauen Wölfe, die von den nationalistischen Türken als Symbole und Namen weitergeführt werden, sind auf diese Legende zurückzuführen.

Detaillierte Post auf SABAH AVRUPA – Die Türkische Tageszeitung.

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