„Das ist eine ganz traditionelle neoliberale Argumentation“
Wir haben mit Dr. Nadja Rakowitz, Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte, über die Gesundheitsreform ein Interview geführt.
Was ist der Grund für das neue Reformvorhaben der Regierung?
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums werden die gesetzlichen Krankenkassen im nächsten Jahr ein Defizit von 11 Milliarden Euro haben. Ein weiterer Grund, den die Regierung jetzt nennt, ist der, dass die Arbeitgeber nicht weiter belastet werden dürften mit Lohnnebenkosten. Deshalb versuchen sie jetzt die Finanzierung so zu ändern, dass die Arbeitgeber in Zukunft weniger belastet werden als bislang.
Und wodurch ist das Loch von 11 Milliarden Euro entstanden? Waren die Menschen mehr krank oder was haben sie falsch gemacht?
Das ist zum Teil entstanden durch die Wirtschaftskrise, die wir hatten, durch die Kurzarbeit. Wenn viele Leute in Kurzarbeit gehen, dann wird weniger Beitrag bezahlt, weil die Leute weniger verdienen. Das hat wohl eine Lücke gerissen und auch die großen Einkommenssteigerungen der niedergelassenen Ärzte und wohl auch der Anstieg der Pharmapreise.
Und warum sollen die Arbeitgeberbeiträge jetzt eingefroren werden? Wieso kann man die nicht mit erhöhen bzw. nur die erhöhen?
Also ich würde natürlich die These vertreten, die Arbeitgeberbeiträge müssen genauso erhöht werden, wie die für die Arbeitnehmer. Die Bundesregierung argumentiert so, dass sie sagt, die Arbeitgeber müssen entlastet werden, die Lohnkosten müssen niedrig gehalten werden. Wenn die Lohnkosten niedrig sind, haben die eine bessere Position auf dem Weltmarkt. Sie können ihre Waren besser verkaufen und dadurch entstehen Arbeitsplätze. Das ist eine ganz traditionelle neoliberale Argumentation, dass man eine angebotsorientierte Politik machen muss. Dass stimmt alles nicht, die Belastung durch die Lohnnebenkosten ist minimal, sowohl für die große Industrie als auch z.B. für Handwerker, da ist sicher überhaupt kein Konkurrenznachteil. Es ist auch so, dass die Lohnstückkosten der deutschen Industrie im Vergleich zu den europäischen Konkurrenten relativ niedrig sind, weil die Produktivität in Deutschland so hoch ist. Deutschland ist Exportweltmeister oder zweiter Exportweltmeister, insofern gibt es da überhaupt keinen Grund, die Arbeitgeber an der Stelle zu entlasten. Aber das ist eben die FDP-Ideologie oder die liberale Ideologie.
Die paritätische Finanzierung wurde schon unter Rot-Grün längst aufgegeben. Mit der neuen Reform wird diese ungleiche Beitragshöhe noch mal zum Nachteil der ArbeiterInnen verschärft.
Es wird so sein in der Zukunft, dass die Arbeitgeberbeiträge 7,3 % betragen. Die Arbeitnehmer müssen 7,3 % bezahlen plus 0,9 %, macht zusammen 8,2 % plus dem Zusatzbeitrag. Das ist jetzt diese kleine Kopfpauschale, würde ich jetzt sagen, würden auch der DGB und die Gewerkschaften sagen, weil in Zukunft die Kassen alle Kostensteigerungen über diesen Zusatzbeitrag bestreiten können und den ziehen sie dann pauschal ein. Also d.h. der Arbeitnehmer zahlt in Zukunft 8,2 % von seinem Bruttolohn plus einen Zusatzbeitrag, den die Kasse dann pauschal nehmen kann. Das ist zumindest eine „kleine“ Kopfpauschale. Egal ob sie jetzt Friseuse sind und irgendwie nur 4 Euro in der Stunde verdienen oder Abteilungsleiter und 5.000 Euro verdienen im Monat. Beide werden dann den selben pauschalen Zusatzbeitrag bezahlen müssen.
Und was fordern Sie als Verein demokratischer ÄrztInnen?
Wir fordern, was die Finanzierung angeht eine Bürgerversicherung. D.h. alle Einkommen, also sowohl Lohneinkommen als auch Kapitaleinkünfte, Zinseinkünfte, Mieteinkünfte sollen verbeitragt werden. Alle Einkommensarten, d.h. man müsste die private Krankenversicherung abschaffen und alle Menschen in Deutschland sollten einen prozentualen Beitrag auf ihr Einkommen zahlen. Also wäre ich mit 1.300 oder 1.700 Euro Brutto auch dabei, aber ein Bayernspieler mit hohem Einkommen ebenso. Jeder müsste im Monat den selben Beitragssatz zahlen und man müsste den Beitragssatz insgesamt senken. Man hatte das mal in Hessen ausgerechnet, der Beitragssatz würde dann auf 9,2 % sinken.
In Deutschland arbeiten 7 Millionen Menschen im Niedriglohnbereich, wie hoch soll deren Beitrag sein? Sollen sie überhaupt noch Beiträge zahlen, weil die Menschen selber kaum etwas haben?
Ja, dass ist natürlich noch ein Problem zusätzlich, dass zu viele Leute viel zu wenig verdienen. Aber ich würde sagen, wenn man einen prozentualen Beitragssatz nimmt, dann ist ja jemand der Niedriglohn hat auch wenig belastet. Dennoch müsste man sich gesellschaftspolitisch, tarifpolitisch überlegen, dass das so nicht gehen kann, dass so viele Menschen im Niedriglohnsektor arbeiten.
Der DGB hat zu Protesten im Herbst aufgerufen. Werden die demokratischen ÄrztInnen auch etwas unternehmen?
Wir sind an dieser Kampagne beteiligt. Das ist eine Kampagne, die der DGB und viele Gewerkschaften und paar andere Organisationen zusammen machen. Der Verein demokratischer ÄrztInnen machen bei öffentlichen Veranstaltungen mit und versuchen, die Leute aufzuklären, gegen die Kopfpauschale zu mobilisieren. Wir selbst haben auch eine Internetseite geschaltet, wo sich Ärzte gegen die Kopfpauschale wenden sollen. Die ist allerdings nicht so erfolgreich.
Meinen Sie, man kann mit den Protesten etwas erreichen, so wie in Frankreich. Die haben jetzt einige Verbesserungen errungen.
Das kann ich nicht einschätzen. Ich hoffe sehr, dass die Proteste was erreichen. Soviel ich weiß, sind 80 % der Bevölkerung gegen die Kopfpauschale und wollen die gesetzliche Krankenversicherung und das solidarische Prinzip verteidigen. Ob man die Leute dazu bringen kann, auf die Straße zu gehen und das entsprechend auch aktiv dafür einzustehen, kann ich im Moment nicht einschätzen. Ich merke nur, überall wo man mit Leuten redet, ob bei Veranstaltungen oder auf der Straße, alle die Kopfpauschale für absurd, ungerecht und unsolidarisch halten. Die Idee der Bürgerversicherung, dass alle Menschen eben auf ihr Einkommen den prozentualen Beitrag zahlen sollen, versuchen wir allen plausibel zu machen.
Detaillierte Post auf Yeni Hayat » Deutsch