NSU-Prozess: “Ich fordere Rechenschaft!”
Am 51. Verhandlungstag im NSU-Prozess sagten Elif und Gamze Kubaşık, die Ehefrau und Tochter von Mehmet Kubaşık aus. Er ist mutmasslich der achte Opfer der Zwickauer Terrorzelle.
Elif Kubaşık forderte in ihrer Aussage als Zeugin Rechenschaft für den Mord an ihrem Ehemann. Mit Hilfe eines Dolmetschers erklärte sie: „Mein Mann hatte seine Mutter seit 15 Jahren nicht gesehen. Wir wollten in dem Jahr zu ihr. Aber es war uns nicht gegönnt.“ Gemeinsam hatten sie den Verkauf des Kiosk geplant. Es gab sogar einen Käufer mit dem sie sich per Handschlag geeinigt hatten. Danach sprach sie von dem, was sie und ihre Kinder nach dem Tod von Mehmet Kubaşık durchgemacht haben: „Die Menschen hatten Vorurteile uns gegenüber. Sie sprachen hinter unserem Rücken über uns. Die Polizei verdächtigte mich, nahmen DNA Proben von mir und meinen Kindern und durchsuchten mit Spürhunden unsere Wohnung.Aber sie sagten nicht, dass sie nach Drogen fahnden. Nur Gott weiß, was ich durchgemacht habe.“
Nach Elif Kubaşık sagte ihre Tochter Gamze aus. Sie sprach deutlich und klar, aber ihre Stimme versagte, wenn sie über ihr Verhältnis zum Vater redete. Sie kam gerade von der Schule als sie vor dem Kiosk des Vaters eine Menschenmenge, Polizei und Rettungswagen sah. Dachte, dass es wieder einmal Streit in dem benachbarten marokkanischen Café gegeben haben muss, doch als sie näher kam, sagte ein Beamter ihr: ”Dein Vater ist Tod!“
Normalerweise arbeitete die Mutter von morgens um 6.00 Uhr bis mittags in dem Kiosk. In der Zeit erledigte Mehmet Kubaşık die Einkäufe und löste seine Frau ab. Er blieb bis nach Mitternacht in seinem Laden. An diesem Tag aber fing er früher an, weil seine Frau Besuch von ihrer Schwester aus London hatte. Danach stellte Richter Götzl der jungen Frau Fragen über den Tattag und dem Vater:
Richter Götzl: Wie lief der Laden? Wie kam man rein?
Gamze Kubaşık: Für einen Kiosk war er ein wenig zu groß. Die Kunden konnten eintreten. Auf der rechten Seite befand sich der Tresen mit der Kasse. Rechts neben der Kasse standen alkoholische und nicht alkoholische Getränke und ein Kühlschrank. Vor der Kasse gab es Süßigkeiten, Chips und Schokolade.
Richter Götzl: Konnte man von draußen einkaufen oder mussten die Kunden reingehen?
Gamze Kubaşık: Wir mussten den Kiosk um 22.00 Uhr schließen, aber es gab einen Verkaufsfenster.
Richter Götzl: Gab es eine Klingel?
Gamze Kubaşık: Die Klingel war außen am Verkaufsfenster?
Richter Götzl: Gab es eine Überwachungskamera.
Gamze Kubaşık: Ja, aber mein Vater hatte sie ausgeschaltet.
Richter Götzl: War die Kamera sichtbar?
Gamze Kubaşık: Ja. Sie war offen angebracht.
Richter Götzl: Mich interessiert der allgemeine Zustand ihres Vaters. Wie hat er gearbeitet? Was hatte er für eine Persönlichkeit?
Gamze Kubaşık: Mein Vater erlitt ein vielleicht zwei Jahre vor seiner Ermordung einen Schlaganfall. Davor arbeitete er für einen Dönerladen. Weil er krank wurde, konnte er nicht mehr als Lieferant tätig sein. Er war ein Jahr arbeitslos und musste behandelt werden. Als es ihm besser ging, konnte er aber seine Arbeit nicht wieder aufnehmen. Dann ergab sich die Möglichkeit diesen Kiosk zu übernehmen, was wir auch gemacht haben.
Richter Götzl: Erzählen Sie uns von ihrer Familie. Sie haben Geschwister.
Gamze Kubaşık: Ich habe zwei Brüder im Alter von dreizehn und achtzehn Jahren. Damals waren sie noch klein. Der ältere, Ergün, ging damals auf die Realschule, der jüngere, Mert, in den Kindergarten. Heute ist er auf der Realschule.
Richter Götzl: Was habt ihr nach dem Mord erlebt?
Gamze Kubaşık: Mein jüngerer Bruder hat nicht viel davon mitbekommen. Eines Tages kam er aus dem Kindergarten und sagte, dass die Kindergärtnerin gesagt hat, der Vater sei im Himmel, als er nach ihm fragte. Er fing an Fragen zu stellen. Hörte aufmerksam zu, sprach aber wenig. Also, ich merkte, dass er sehr aufmerksam zuhörte. Er hat sehr wenige Erinnerungen an unseren Vater. Wir wollen ihn so weit wie es geht, aus dieser Sache raushalten, aber es ist schwer. Mit meinem anderen Bruder fing es an problematisch zu werden. Er bekam Schwierigkeiten in der Schule. Einmal bat seine Klassenlehrerin uns zum Gespräch. Er hatte Streit mit einem Mitschüler. Wir haben ihn gefragt, warum. Er sagte es uns nicht. In der Schule haben wir erfahren, dass er sich mit dem anderen Schüler, der sein bester Freund war, geprügelt hat. Der Grund dafür war, dass der Junge sagte: „Komm mir nicht zu nah, denn meine Familie hat gesagt, dass ihr keine gute Familie seid. Dein Vater nahm Drogen, deine ganze Familie ist im Drogenhandel tätig!“.
Richter Götzl: Was können Sie noch erzählen?
Gamze Kubaşık: Mir ging es sehr schlecht. Ich hatte eine sehr enge Beziehung zu meinem Vater. Ein Vertrauensverhältnis. Auch zu meiner Mutter, aber mit meinem Vater war es ganz anders. Ich fing an die Gerüchte zu hören. Die Menschen sprach hinter unserem Rücken, sagten: „Ihr Vater wurde ermordet. Anscheinend hat er Drogen genommen und auch an Kinder und Jugendliche verkauft“. 2006 machte ich mein Berufsschulabschluss. Im September wollte ich eine Ausbildung beginnen. Aber meine Psyche war nicht bereit dafür. Ich konnte nur ein Tag hingehen. Danach fingen die Ängste an. Ich saß in der Bahn. Meine Hände und Füße zitterten. Ich hatte das Gefühl ständig beobachtet und verfolgt zu werden. Ich verdächtigt jeden, der in den Zug stieg. Vielleicht war der, der gerade reinkam der Mörder meines Vaters. Auf der Rückfahrt erlebte ich das Gleiche. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Ich ging los, kehrte aber wieder zurück, so dass ich am zweiten Tag nicht hingehen konnte. Ich gab meine Ausbildung auf. Danach ging es mir noch schlechter. Ich kann den Tod meines Vaters nicht akzeptieren. Noch heute habe ich Schlafstörungen. Später beschloss ich nicht mehr rauszugehen. Meine Mutter ist Zeugin, ich bin ein Jahr nicht aus der Wohnung gegangen.
Die Frage des Richters, ob sie bei einem Arzt war, bejahte Kubaşık. Aber es wäre nichts für sie gewesen. Sie konnte nicht ”mit einem Fremden über meine Probleme sprechen“. Der Richter fragte auch nach ihrer Mutter. Gamze Kubaşık: „Meine Mutter trauert Tag und Nacht um ihren Mann. Sie hat psychische und physische Probleme. Ihre Hände und Füße schwelen an. Sie ist schnell gereizt, kann nicht richtig schlafen und wird immer noch ärztlich behandelt. Wie es ihr ginge, wollte der Richter wissen. Gamze Kubaşık: „Bevor bekannt wurde, dass die NSU hinter dem Mord steckt, ging es mir besser. Ich habe geheiratet, mein Mann ist ständig bei mir. Aber als herauskam, wer die Morde begangen hat, verschlechterte sich meine Zustand immer mehr. Gamze Kubaşık: „Ich denke viel über die Tat nach. Ich denke an mein Vater. Kann kaum schlafen. Ich habe Schwierigkeiten einzuschlafen. Der Arzt hat mir Schlaftabletten gegeben, aber ich will sie nicht nehmen. Wenn ich sie schlucke fühle ich mich sehr müde. Ich weiß wenig über den emotionalen Zustand meines jüngeren Bruders Mert. Wie gesagt, will ich ihn aus dieser Sache raushalten. Der Ältere, Ergün, zieht sich zurück. Spricht wenig. Wenn er im Wohnzimmer Nachrichten darüber im Fernsehen sieht, geht er sofort in sein Zimmer. Aber ob dort den Fernseher anmacht und sich die Nachrichten anschaut weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass er nicht einmal mit seinen Freunden über dieses Thema spricht. Die Schmerzen meiner Mutter haben niemals nachgelassen. Sie kennen sie nicht. Seit dem Tod meines Vaters hat sie keine hellen Farben mehr getragen. Wenn jemand bei uns Schwarz trägt, weiß man, dass er trauert..
Später wurde Gamze Kubaşık von ihrem Anwalt Sebastian Scharner befragt. Er forderte sie auf, den Tattag zu beschreiben. Danach wollte er wissen: „Ein Tag nach dem Mord sollen 5 Polizisten euch befragt haben. Wie?“ Gamze Kubaşık: „Wir konnten nicht schlafen und haben die ganze Nacht geweint. Am nächsten Tag war die Wohnung voll mit Freunden und Verwandten. Dann kamen 4 bis 5 Polizisten und nahmen uns mit auf die Wache. Wir waren nicht einmal in der Lage uns anzuziehen. Bekannte musste uns helfen. Dort angekommen, wurden wir in einen kleinen Raum geführt. Da waren zwei Polizisten und das Verhör begann.“ Hat man sie gefragt, wie es ihnen geht und ob sie aussagen können, wollte der Anwalt wissen. Gamze Kubaşık: „Nein. Wir wurden weder gefragt wie es uns geht, noch wie unser Zustand ist. Hätte man mich gefragt, hätte ich gesagt, dass ich nicht sofort, sondern später aussagen möchte.“
Anwalt Scharner: Hat man euch gefragt, ob ihr ein Anwalt haben möchtet?
Gamze Kubaşık: Nein. Ich kann mich nicht erinnern.
Anwalt Scharner: Erinnern Sie sich an Details ihrer Aussage?
Gamze Kubaşık: Man fragte mich, ob ich weiß, wer es war und ob mein Vater Feinde hatte.
Anwalt Scharner: Hat man gefragt, ob es Probleme zwischen ihren Eltern gab, ob es eine andere Frau gab?
Gamze Kubaşık: Ich habe gesagt, dass mein Vater so etwas niemals getan hätte.
Anwalt Scharner: Wurden Ihnen Fotos gezeigt.
Gamze Kubaşık: Ja. Ich weiß allerdings noch, ob es beim ersten Verhör war. Aber es wurden Fotos gezeigt. Bilder von 9, 10 fremden Männern. Ich kannte keinen von ihnen. Das habe ich den Polizisten gesagt. Sie wollten, dass ich sie mir noch einmal anschaue und ich sagte, dass ich sie nicht kenne. Dann drehte sich ein Polizist um und sagte: „Sie merkt nicht einmal, dass es sich bei den Personen auf den meisten Fotos um den gleichen Mann handelt“. Sie haben sich lustig darüber gemacht. Aber ich habe es wirklich nicht gemerkt. Und die Polizei dachte, sie kann sich darüber lustig machen.“ Sie erzählte weiter, dass sie nach der Tat niemals wieder in den Kioskladen gegangen sind. Weil sie nicht in der Lage waren sich um das Geschäft zu kümmern, sammelte sich Mietschulden an, es gab eine offene Lieferantenrechnung, die die Familie nicht begleichen konnte. Später wurden sie schriftlich darüber informiert, dass die Waren im Laden als Gegenwert für die Schulden beschlagnahmt wurden. Gamze Kubaşık sagte auch, dass ihre Mutter den Polizisten gegenüber die Vermutung aussprach, dass Neonazis hinter dem Mord an ihrem Mann stecken könnten. Der Polizeichef wies dies als ”unwahrscheinlich“ ab.
Danach stellte Ralf Klemke, der Anwalt des Angeklagten Ralf Wohllebens, seine Fragen. Mit wem sich Ergün Kubaşık geprügelt habe, wollte er wissen oder wer über die Familie gelästert habe. Gamze Kubaşık lehnte es ab, mit einer Antwort diese Art von Nationalitätsdebatten zu befeuern. Auch der Richter und der Staatsanwalt schritten ein und erklärten die Fragen für unzulässig, weil “es keine Rolle spielt, welche Nationalität hinter dem Rücken der Familie gelästert hat.“ Der Anwalt provozierte weiter und stellte unwesentliche Fragen wie: Hat ihre Familie früher Sozialhilfe bezogen. Gamze Kubaşık sagte darauf nur: „Wenn wir Sozialhilfe bekommen haben, dann nur, weil sie uns zustand. Wie jedem anderen Bürger dieses Landes auch.“
Detaillierte Post auf SABAH AVRUPA – Die Türkische Tageszeitung.