Die Militarisierung der inneren Sicherheit

 Das Bundesverfassungsgericht erlaubt in ganz besonderen Ausnahmesituationen von „katastrophischem Ausmaß“ den Kampfeinsatz von Soldaten im Inland

 

Von Heribert Prantl*

 

Die bundesdeutsche Tradition besagt: Kein Einsatz der Bundeswehr im Inland! Das Bundesverfassungsgericht hat nun mit dieser guten Tradition gebrochen. Karlsruhe erlaubt Kampfeinsätze der deutschen Armee innerhalb Deutschlands. Gewiss: nur in absoluten Ausnahmefällen. Gewiss: nur als allerletztes Mittel, als Ultima Ratio. Gewiss: nicht zum Einsatz bei Großdemonstrationen. Aber man kennt solche Gewissheiten; das Gewisse ist einige Zeit später schon nicht mehr gewiss. Man kennt den Mechanismus angeblich absoluter Ausnahme-Entscheidungen; aus ihnen wird über kurz oder lang, meist über kurz, eher eine Regel.

In diesen Tagen wird in Deutschland des 20. Jahrestages der ausländerfeindlichen Ausschreitungen von Rostock gedacht. Damals, vor zwanzig Jahren, haben Neonazis und Rassisten nicht nur in Rostock Ausländerwohnheime angegriffen. Es wurden Dutzende von Wohnungen und Häusern angezündet, in den Flüchtlinge, Migranten und Einwanderer wohnten. Wenn so etwas heute wieder passierte, wäre das womöglich eine „ungewöhnliche  Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes“ von der das Bundesverfassungsgericht sagt, dass in diesem Fall die Bundeswehr eingesetzt werden dürfe. Das klingt, weil es um den Schutz von Minderheiten geht,  zunächst gar nicht so unsympathisch –  wäre aber ein furchtbarer Fehler. Die Situation damals, vor zwanzig Jahren, war ja nicht deswegen katastrophal, weil die Polizei zu schwach war, sondern weil sie nichts tat, weil sie die Ausschreitungen, die Brandanschläge, die Übergriffe nicht ernst nahm, weil sie sich (wie in Rostock) zurückzog und das Feld dem Mob überließ.

Innere Sicherheit ist eine Sache der Polizei, nicht des Militärs. Das Militär ist keine Hilfspolizei, solange es eine gut funktionierende Polizei gibt; die gibt es in Deutschland. Die Situation in Deutschland ist ganz anders als in Kosovo oder Afghanistan, wo die Bundeswehr Polizeiaufgaben übernimmt. Dort tat und tut sie es, weil keine oder zu schwache Polizeikräfte vorhanden sind. Sie bereitet dort Polizeistrukturen vor; in Deutschland sind sie vorhanden. Soldaten sind nicht die besseren Polizisten. Sie sind für deren Aufgaben weder ausgebildet noch ausgerüstet.

Charakteristisch für die Polizei ist die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Charakteristisch für das Militär sind die Kategorien Befehl und Gehorsam, Sieg oder Niederlage, die Niederringung, gar die Vernichtung des Feindes. Mit dem Einsatz von Soldaten im Inneren hat Deutschland in seiner Geschichte furchtbare Erfahrungen gemacht. Soldaten haben die demokratische Revolution von 1848 niedergeschossen, Soldaten haben in der Weimarer Republik Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet. Deswegen galt bisher in der Bundesrepublik: kein Kampfeinsatz von Soldaten im Inneren. Soldaten durften bisher im Inland nur zum Katastrophenschutz antreten – Sandsäcke stapeln gegen das Hochwasser zum Beispiel.

Der Karlsruher Bundeswehr-Beschluss ist nun eine Art Vorratsbeschluss für alle möglichen, derzeit noch nicht absehbaren innenpolitischen Lagen. Die bisher verbotene, nun erlaubte Kooperation von Polizei und Kampfeinheiten der Bundeswehr muss strukturell und logistisch vorbereitet werden. Der Karlsruher Beschluss ist daher ein Einstieg in eine Militarisierung der inneren Sicherheit, die nicht zur deutschen Geschichte und nicht zum Grundgesetz passt.

In zehn Jahren könnte daher eine Rede des deutschen Verteidigungsministers zu Vereidigung der Soldaten so klingen: „Sie, meine jungen Soldaten, schwören heute, die Freiheit zu verteidigen. Dazu müssen Sie wissen: Die Freiheit zu verteidigen, das ist heute noch schwieriger, als in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Damals war das einfach; der Feind drohte von außen. Heute sitzt der Feind vor allem innen. Radikale Gruppierungen höhlen die Demokratie aus. Fundamentalisten und Extremisten bedrohen die staatliche Ordnung. Organisierte Kriminalität ist auf dem Vormarsch. Sie, meine jungen Soldaten , werden mit massiven Mitteln gegen diese Gefahren antreten. Sie werden die Polizei unterstützen. Was von Ihnen verlangt wird, ist also eine neue Form der Tapferkeit. Sie schützen nicht mehr das deutsche Territorium oder das der Bündnispartner, wie das Ihre Vorgänger als gute Soldaten getan haben; Sie schützen die Strukturen unseres Staates. Dafür danke ich Ihnen.“

Wenn das so oder so ähnlich kommt, dann trägt die Schuld daran das Bundesverfassungsgericht: Es hat die Verfassung geändert. Das durfte es eigentlich gar nicht. Das dürfen eigentlich nur Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit. Die CDU/CSU hatte in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder Anläufe unternommen, eine solche Verfassungsänderung durchzusetzen; sie hat es nicht geschafft, die Mehrheit für den Bundeswehreinsatz im Inneren kam nie zustande. Nun hat das Verfassungsgericht die Mehrheit, die bisher nicht zustande kam, durch seine Entscheidung ersetzt. Das ist ein einmaliger, ein unerhörter Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik und ihres Verfassungsgerichts.

Gewiß: Das Gericht hat versucht, viele Vorsichtmaßnahmen, viele Sperren einzubauen, auf dass die Erlaubnis zum Einsatz der Armee im Inneren nicht missbraucht werden kann.  Aber: Wenn die Tür einmal offen ist, und sei es auch nur einen winzigen Spalt, dann ist sie offen.

* Prof. Dr. Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und Leiter der Redaktion Innenpolitik

 

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