Der türkische Selbstmord
Viele bezeichnen die Protestaktion in der Türkei als den “türkischen Frühling“ – in Anlehnung an den arabischen Frühling, der nichts anderes war als ein paar sonnige Tage im arabischen Herbst. Ich bezeichne sie als den “türkischen Selbstmord“.
Was hat uns diese Protestwelle gebracht? Nichts. Nichts als Schaden. Die Regierung hat eingelenkt und sich mit Vertretern der Gezi Park Bewegung an einen Tisch gesetzt. Zwei Mal. Die Baumaßnahmen wurden gestoppt und nun soll ein Gericht darüber entscheiden. Ein Referendum wurde in Aussicht gestellt… Warum sind die Menschen immer noch auf der Straße? Was wollen sie wirklich? Was fordern sie? Nun, das wissen sie leider auch nicht.
Selbstverständlich weiß ich, dass es nicht um ein paar Bäume geht. Schließlich werden in der Türkei jedes Jahr hunderte Hektar Wald durch Terroristen in Brand gesteckt und niemand macht sich die Mühe aus den Kneipen in den Amüsiervierteln rund um Taksim zu kommen und zu protestieren. Es geht um mehr. Aber um wie viel mehr?
Mehr Meinungsfreiheit?
In der Türkei gibt es die Meinungsfreiheit. Ich habe sie. Meine Familie auch. Wir sind weder ins Gefängnis gekommen, noch unter Druck gesetzt oder verfolgt worden, weil wir gesagt haben was wir denken. Ich frage mich, was die Menschen für Meinungen haben, die sie nicht sagen dürfen. Dürften sie diese Meinungen woanders kundtun? Um seine Meinung sagen zu können, muss man in der Lage sein, sich eine Meinung zu bilden. Und das ist es, was uns doch im Grunde genommen schwer fällt.
Mehr Freiheit?
Noch mehr? Jeder redet davon, dass die armen, unterdrückten Türken mehr Freiheit fordern. Aber ihr seid doch frei! Wie frei wollt ihr den noch sein? Was ist es, was ihr unbedingt machen wollt und nicht dürft? Was man aber nicht fordern kann ist Freiheit, die die Freiheit der anderen einschränkt. Freiheit hebt in einer Gesellschaft nicht die Regeln, die Gesetze, die Vorschriften auf. Ich finde, wir sind frei zu denken, zu handeln, zu tun, wir sollten es auch mal machen.
Mehr Recht auf Selbstbestimmung? Mehr Pressefreiheit? Mehr was? Ich stehe seit Tagen in Kontakt mit den Demonstranten in Istanbul. Sie können mir diese Fragen auch nicht beantworten. Nach Gesprächen mit ihnen habe ich den Eindruck, dass es hier nicht um mehr geht, sondern um weniger: wer gibt zuerst nach? Trotz! Wie zwei kleine Kinder, die sich streiten und keiner weiß mehr warum, aber keiner will nachgeben. Weder die Menschen auf der Straße, noch die Regierung will sich bloßstellen lassen. Zwar sind die ersten Schritte getan und Erdoğan hat sich mit Vertretern der Demonstranten getroffen, wobei ich sagen muss, dass es nicht sein kann, dass ein paar Soapschauspieler oder Popsternchen das Volk repräsentieren, aber gut. Er hat sich mit ihnen getroffen. Nach den Gesprächen mit dem Ministerpräsidenten war keiner unter ihnen, der da stand und gesagt hat: Macht weiter. Aber auch keiner, der sagt: Hört auf.
Ich tue es: Hört endlich auf uns zu schaden! Hört bitte auf! Geht nach Hause, bildet Initiativgruppen, gründet Parteien, organisiert euch, denkt über Alternativen und Lösungen nach, macht irgendetwas, macht aber nicht mehr kaputt.
Wir sollten einmal kurz innehalten und uns fragen, was haben wir mit dieser Protestaktion bisher erreicht? Wie hoch ist der Schaden? Eine ganz andere Frage ist, wie stehen wir vor der ganzen Welt da? Bis vor kurzem galten wir als eine aufstrebende Wirtschaftsmacht mit stabiler politischer Lage. Und jetzt? Früher gingen wir ins Ausland, um zu arbeiten. Nun kamen die ausländischen Firmen zu uns, damit wir für sie arbeiten. Wir waren das junge, dynamische Volk der Zukunft. Wer sind wir jetzt? Die ausländische Presse, die am Anfang noch heuchlerisch die türkischen Demonstranten unterstützt hat, schreibt nun darüber, warum wir nicht in die EU gehören, warum wir noch so weit entfernt davon sind, ein anerkanntes Mitglied der westlichen Welt zu sein, warum man in der Türkei nicht investieren sollte und warum die Türkei kein vollwertiger Geschäfts- und Gesprächspartner ist. Was bedeutet das unterm Strich für uns? Für die Regierung nichts. Erdoğan kann samt seiner Partei zurücktreten. Aber der kleine Türke, also wir, wir werden die Rechnung für diese sinnlose Aktion bezahlen. Diverse Länder, die angeblich die Proteste in der Türkei unterstützen und die Haltung der Regierung missbilligen, warnen bereits ihre Bürger davor in die Türkei zu reisen. Große Investoren haben ihre Türkeioffensive zurückgestellt und wollen ihre Pläne überdenken. Ganz abgesehen natürlich von den Schäden die rund um den Taksim-Platz entstanden sind und die von den Steuerzahlern bezahlt werden müssen.
Doch die Protestaktionen haben auch etwas Gutes:
Da wir dafür sorgen, dass man vor der Türkei als Reiseland warnt, könnten die stagnierenden Tourismusbranchen in Spanien, Griechenland, Portugal, Ägypten usw. sich über mehr Besucher freuen. Wir können ja auch dorthin reisen, um uns von einer der strapazierenden Protestaktionen zu erholen. Ach nee, wer wird uns denn noch ein Visum geben.
Wir waren lange genug der größte Produzent von Bussen, Kleintransportern, Fernsehern oder DVD-Playern in Europa. Wisst ihr noch, damals als wir Letzter waren, war es doch auch nicht schlecht.
Jetzt brauchen europäische Länder auch keine Angst mehr zu haben, dass die Automobilmarken ihre Produktionsstätten in die Türkei verlagern und somit tausende von Arbeitsplätzen abgebaut werden. Ach, wer sind wir schon, dass wir Autos bauen wollen, wir saufen lieber und bauen Unfälle damit.
Drittgrößter Textilproduzent der Welt? Wir brauchen keine Klamotten, wir brauchen Flaggen, die wir bei Protestaktionen schwenken können. Können wir doch billig aus China importieren.
Firmen wie EON, RWE und andere, die in die Energiebranche in der Türkei einsteigen wollten, brauchen es nicht. Wir haben genug Energie, die verschwenden wir gerade grandios auf den Straßen.
Leute, kommt zur Besinnung, zur Vernunft! Ihr wollt Erdoğan abschiessen, aber ihr haltet euch die Waffe gerade an die eigenen Schläfe.
Candan Six-Sasmaz
Detaillierte Post auf SABAH AVRUPA – Die Türkische Tageszeitung.