Böse Fatmas leben länger – 1984

In diesem Jahr passierte etwas Trauriges, was meine Großeltern Veli und Fatma sehr freute: Opa Izzet starb am 29. Juni 1984. Am letzten Tag des Ramadanmonats. Nach der Krebsdiagnose lebte er nur noch drei Monate, die er nur mit Morphium und anderen schweren Medikamenten überstand.

Als wir die Nachricht vom Tod Opa Izzets bekamen, flogen wir sofort in die Türkei. In Gazipaşa angekommen, fuhren wir nicht wie sonst ins Macardorf sondern nach Göçük zum Elternhaus meiner Mutter, was meine Großeltern väterlicherseits sehr aufregte. So sehr, dass sie sich sofort auf den Weg nach Göçük machten. Wenige Stunden nach uns kamen sie an. Die Leiche von Opa Izzet war solange aufbewahrt worden bis meine Mutter auch da ist. Das Haus war voll mit Gästen, die ihr Beileid ausdrücken und die Familie trösten wollten. Als Opa Veli und Oma Fatma sahen wie viele Menschen da waren regten sie sich noch mehr auf. Opa Veli fragte herrisch „Was wollen diese Menschen alle hier?“ Einer der Gäste sagte: „Izzet ist gestorben. Hast Du es nicht mitbekommen?“ Opa Veli: „Ich verrate dir mal etwas, was Du anscheinend bisher nicht wusstest: Menschen sterben. Alle!“ Der Mann schüttelte den Kopf. Dann sprach man darüber, was für ein guter Mensch Opa Izzet war und jeder erzählte Anekdoten über ihn. Eine Zeitlang rollte Opa Veli mit den Augen, doch als einer sagte: „Es gebührt ihm, dass er am Arefetag (letzter und heiligster Tag des Ramadanmonats) gestorben ist.“ Daraufhin platzte Opa Veli der Kragen: „Meine Güte, als würden am Arefetag nur die guten sterben. Wisst ihr wie viele Schweine und Hunde an diesem Tag auch gestorben sind?“

Das peinliche war nicht, dass alle Gäste im Zimmer diese gebrüllte Beleidigung hörten, sondern auch meine geschockte Mutter, die sehr an ihrem Vater hing. Zum ersten Mal, aber nicht zum letzten Mal, sah ich wie die Ärmste die Kontrolle verlor. Wie eine rasende Furie kam sie auf Opa Veli zugerannt. Sie griff mit beiden Händen nach seinem Kragen, hob ihn hoch und schüttelte den recht zierlich gebauten Mann, wie ein Überraschungsei und schrie ihn an: „Du Ausgeburt des Teufels! Wie kannst Du es wagen so über meinen Vater zu sprechen? Ich bringe Dich um! Und sag nie wieder etwas über Schweine. Ich respektiere jedes Schwein mehr als Dich, weil sie wenigstens Menschen ernähren. Die tun niemandem etwas.“ Dann fing sie an zu fluchen. Weil sie in Rage war, schubste sie Opa Veli gegen den Einbauschrank, immer wenn er sich wieder hochzog, schubste sie erneut. Niemand half ihm. Niemand. Ich glaube, die anderen hätten auch am liebsten losgeschlagen. Dann kam mein Vater herein, schaute sich das ganze ein wenig an, schritt dann aber ein und zog meine Mutter zurück. Oma Fatma, die unten im Stall war, um Hühner zu klauen, kam ebenfalls an und lief zu ihrem geschockten Mann, der schwer atmend auf dem Boden lag. Er zeigte auf meine Mutter und sagte zu seine Frau: „Sie will mich umbringen. Weil ihr Vater tot ist, soll ich auch sterben.“

Oma Fatma fing an laut zu klagen und rannte raus. Direkt zu den Soldaten und Polizisten, die hochrangige Beerdigungsgäste wie den Bürgermeister von Gazipaşa und von Alanya, eskortiert hatten und zeigte ihre Schwiegertochter an. Die kamen ins Haus und nahmen meine Mutter mit. Nachdem sie ihre Aussage unterschrieben hatte, kam sie ins Gefängnis. Nun, die Wache des Dorfes darf man sich folgendermaßen vorstellen: zwei Zimmer ein Bad. In dem einen Zimmer sitzt der Dorfwächter, das andere ist eine Gefängniszelle mit Gittern und einem großen Fenster mit Blick auf die Dorfmitte. Da saß meine Mutter nun. Opa Veli stand mit Oma Fatma vor dem Fenster und sie lachten meine Mutter aus. Weil es Juli war und sehr heiß, mussten die sterblichen Überreste meines Großvaters beerdigt werden. Also marschierten mehrere Tausend Menschen an meiner Mutter vorbei und trugen meinen Großvater ins Grab. Die Bemühungen der beiden Bürgermeister zeigte Wirkung und meine Mutter war gegen Abend wieder frei.

Zuhause angekommen, sah sie Opa Veli und Oma Fatma gemütlich vor dem Fernseher sitzen und auf dem einzigen Sender des Landes eine Showsendung mit Bauchtänzerin sehen. Als wäre nichts gewesen, bat Oma Fatma sie, ihnen sofort Tee zu servieren. Mama fing an laut zu weinen, es brach alles aus ihr heraus. Opa Veli richtete sich auf und tröstete sie: „Warum weinst Du denn? Ist doch gut, dass er tot ist. Weiß Du überhaupt, was Du nun alles erbst! Freu dich doch. Du bist nun eine reiche Frau, mein Sohn ein reicher Mann und ich bin auch reich.“ Zu meinem geschockten Onkel gewandt: „Wir treffen uns wohl am besten morgen beim Notar!“

Oma Fatma sagte zu meiner heulenden Mutter: „Nimm deine Sachen, wir wollen nach Hause fahren. Deine Kinder kannst Du hier lassen.“ Mama: „In die Hölle? Nein, Danke.“ Schlagfertig antwortete Oma Fatma: „Wieso nicht? Dein Vater ist auch da. Ihr könntet euch in Ruhe verabschieden.“

Mein Vater wollte seine Eltern schnell loswerden. Er nahm die Autoschlüssel von meinem Onkel und bot ihnen an sie nach Hause zu fahren. Doch Oma Fatma wollte nicht ohne ihre Geschenke gehen. Papa erklärte ihr, dass wir mit dem ersten Flieger gekommen sind, nach dem wir von Opa Izzets Tod erfahren haben und keine Zeit hatten irgendetwas zu kaufen. Doch seine Mutter hatte kein Verständnis für soviel Egoismus. Sie warf ihm vor, immer nur an die anderen zu denken. Warum er denn nicht den zweiten Flug genommen hat. Was meine Mutter denn davon gehabt hat, den ersten Flug zu nehmen, an der Beerdigung hat sie trotzdem nicht teilgenommen. Verzweifelt durchwühlte Papa unser Gepäck und kam mit einer Packung Instantkaffee, das wir noch da hatten und unserer Sonnencreme für Kinder wieder. Den Kaffee kannte Oma Fatma bereits, überprüfte aber trotzdem ob er von Nestlé ist, damit er ihr kein No-name-Produkt andreht. Die Sonnencreme verkaufte mein Vater als teure Anti-Aging-Creme. Er sagte, dass sie meiner Mutter gehört, aber Oma Fatma sie gerne haben kann. Oma Fatma schaute angeekelt auf meine Mutter und sagte: „Nun, scheint ja nicht zu wirken, aber ich nehme sie trotzdem.“ Sie gingen aber erst, nachdem Papa ihnen Geld, natürlich deutsche Mark, gegeben hatte, damit sie sich was schönes kaufen können. Aber sie ging nicht ohne ein paar Hühner, eine Ziege und den vielen Essenstöpfen, die die Nachbarn vorbeigebracht hatten.

Meine Mutter wollte eigentlich länger bei ihrer Mutter bleiben und ihr beistehen. Doch Oma   Ünzile sprach lieber mit ihren Tieren und lies sich von denen trösten. Mein Onkel ging wieder in sein Geschäft, meine ältere Tante in ihr Dorf und meine jüngere Tante mit zu uns in unser neues Haus. Mama und ihre Schwester standen sich sehr nah und wollten Zeit miteinander verbringen, weil meine Tante ebenfalls weit weg von zuhause wohnte. Ihr Mann war als Arzt in Ostanatolien tätig und sie kam nicht oft nach Gazipasa. Sie hätten auch eine gute Zeit miteinander verbringen können, wenn nicht Oma Fatma und Opa Veli täglich vorbeigekommen wären. Als Oma Fatma sah, dass meine Tante bei uns wohnt, wurde sie sauer. Sie fragte sie mit zuckersüßer Stimme: „Warum bist du nicht mit deinem Mann weggefahren? Weil er im Bett nicht so kann wie Du willst?“ Sie spielte darauf an, dass der Mann meiner Tante fünfzehn Jahre älter ist als sie. Meine Mutter fragte Oma Fatma, ob sie sich nicht schämt einer Frau, die vor wenigen Tagen ihren Vater verloren hat, so etwas zu sagen. Nein wieso, sie hätte es auch gesagt, wenn der Mann nicht gestorben wäre, so Oma Fatma, die sich sehr freute, dass meine Mutter die Sprache auf ihren Vater gebracht hatte und fragte: „Schön, dass Du davon anfängst. Wann teilen wir die Erbschaft?“

Leider konnte Oma Fatma uns nicht täglich besuchen. Sie durfte ja nicht die Dorfgemeinde vernachlässigen und Ihnen die tägliche Dosis Bosheit vorenthalten. Im Macardorf hatte sich eine dumme Gewohnheit breitgemacht: Die Bewohner erzählten Oma Fatma alles, was sie über die anderen Bewohner wussten, erfahren oder rausbekommen hatten. Natürlich nicht aus Bosheit, das war Oma Fatmas Job, sondern aus Selbstschutz. Sie dachten tatsächlich, wenn Oma Fatma sich mit den anderen beschäftigt, hat sie keine Zeit mehr sie fertig zu machen. Aber sie irrten sich. Oma Fatma hatte Zeit, für jeden. So kam es, dass meine Oma alles über jeden wusste. Sie war bestens darüber informiert, wer in wen verliebt war, wer seine Frau betrog, wer Geldsorgen hatte, wer zuviel Geld hatte, wer über wen redete, wer seine Frau schlug, wer ihren Mann schlug oder ihm nächtliche Liebe verweigerte, sie war die Wissensquelle des Dorfes. Und sie teilte ihr Wissen.

An manchen Tagen setzte sie sich auf den Dorfplatz, wo auch viele andere es sich unter dem Schatten des Kastanienbaumes gemütlich gemacht hatten und sorgte für gute Unterhaltung für sich, schlechte Unterhaltung für die anderen. Eines Tages sah sie eine junge Frau, die sich allem Anschein nach davon schleichen wollte, um ihren Freund zu treffen. Da ihr Vater mit dem Vater des jungen Mannes wegen einem Stück Land zerstritten war, durfte die Beziehung auf keinen Fall bekannt werden. Oma Fatma war das egal. Lauthals schrie sie hinter der jungen Frau her: „Na willst Du dich wieder mit dem Sohn des Mannes treffen, der deinen Vater betrogen hat?“ Innerhalb von wenigen Stunden, war der Vater des Mädchens über diese Affäre informiert und verbot ihr, den jungen Mann weiterhin zu sehen. Er fand eine ehrliche Familie mit Sohn, der bereit war, seine Tochter zu heiraten. Die junge Frau brannte im Brautkleid mit dem Mann durch, den sie liebte und sorgte dafür, dass nun ihr Vater von der ehrlichen Familie als Betrüger diffamiert wurde.

Nachdem Oma Fatma die junge Frau verraten hatte, entdeckte sie eine Dorfbewohnerin, die ein wenig dicker war als die anderen und gerade vom Feld kam. Missbilligend sagte Oma Fatma zu ihr: „Kein Wunder, dass dein Mann dich betrügt. Ein Wunder ist, dass er dich überhaupt geheiratet hat.“ In Fahrt gekommen, fragte sie einen Mann mit Tüten in der Hand wie sich mit so vielen Schulden diese Einkäufe leisten kann. Einem anderen erzählte sie, dass sein Bruder ihn mit den Orangen über das Ohr haut. Dem anderen, dass seine Frau es mit den Soldaten unten am Dorfeingang treibt. Einem alten Mann redete sie ein, dass er in wenigen Tagen sterben muss, aber seine Familie es ihm nicht sagt.

Nichts machte Oma Fatma glücklicher als abends auf der Terrasse zu stehen und den Streitigkeiten, Diskussionen und Geschreie zuzuhören, die aus den Häusern rundherum zu ihr drangen.

Doch auch um uns kümmerte sich Oma Fatma intensiv. Als sie und Opa Veli merkten, dass meine Mutter und ihre Geschwister nicht im Geringsten daran interessiert waren, ihr Erbe ungerecht aufzuteilen, griffen sie zu drastischeren Maßnahmen. Eines Tages kamen sie uns nach Hause und hatten einen Mann dabei, den wir nicht kannten. Er holte einen Vertrag aus der Tasche und meine Großeltern befahlen meiner Mutter es zu unterschreiben. Sie wollte wissen, was das ist. Oma Fatma sagte, dass gehe sie überhaupt nichts an, sie solle gefälligst unterschreiben. Mama griff nach dem Dokument und warf einen Blick hinein, was Oma Fatma sehr aufregte. Sie sagte dann, ach Mama könne nicht einmal ihren Namen schreiben, aber wohl lesen.

Es handelte sich bei dem Dokument um eine Vollmacht, die Mama ihren Schwiegereltern erteilen sollte. Damit hätten Oma Fatma und Opa Veli die Befugnis im Namen meiner Mutter ihr Erbe einzufordern, dieses zu verkaufen und über das Geld zu verfügen. Sie weigerte sich zu unterschrieben. Oma Fatma griff nach ihrer Hand und hielt es über das Papier und versuchte mit ihr zusammen die Unterschrift darunter zu setzen. Opa Veli fragte den Notar, ob er nicht unterschrieben darf, weil seine Schwiegertochter wie man sieht nicht ganz dicht ist. Der Notar sagte, dass er das nicht dürfe. Der Mann hatte wohl nicht mit so einer Szene gerechnet. Er fragte vorsichtig, wer für das Aufsetzen des Vertrages bezahlt. Meine Mutter sagte genervt, sie wohl nicht, sie hat ihn ja nicht beauftragt. Oma Fatma sagte, sie auch nicht, weil der Vertrag ja nicht unterschrieben ist. Sie bezahlt keine halbfertigen Arbeiten. Als der Notar Einspruch erheben wollte, zerriss Opa Veli die Papiere, zündete sie auf den Bodenfliesen an und fragte, für welchen Vertrag er denn nun bezahlen müsse, er hätte gar keinen Vertrag gesehen.

Ein Tag vor unserer Abreise kamen sie wieder. Die Geschwister meiner Mutter waren auch da, um uns zu verabschieden, was meinen Großeltern sehr gelegen kam. Oma Fatma fragte, wer denn nun die Anteile von meiner Mutter bekommt. Mein Onkel, er war inzwischen sehr ungeduldig mit den beiden Alten wie er sie nannte, erklärte, dass er und seine beiden Schwestern in der Türkei sehr wohlhabend sind und zu den reichen der Stadt gehören, es also nicht nötig haben, die Schwester in Deutschland zu betrügen. Oma Fatma hatte noch Geduld mit meinem Onkel und erklärte ihm seelenruhig, dass er und seine beiden Schwestern reich geworden sind, weil sie betrügen. Er mit halbvollen Propanflaschen für Herde, die er in seinem Laden verkaufe. Meine Tante mit Steinen in den Minibananen-Kisten, die sie in die ganze Welt verschicke. Und der Mann von meiner anderen Tante betrüge gesunde Menschen, indem er sie gezielt krank macht. Mein Onkel erklärte daraufhin, dass er zwar bis dahin niemanden betrogen hat, aber die Polizei betrügen wird, nachdem er sie erschossen hat.

Wenn er es damals wirklich gemacht hätte, wären ihm heute so viele Menschen dankbar.

Candan Six-Sasmaz

Detaillierte Post auf SABAH AVRUPA – Die Türkische Tageszeitung.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *