Wer Menschen dauerhaft ausgrenzt, kann nicht auf deren „Selbstverantwortung“ pochen
Wer Menschen dauerhaft ausgrenzt, kann nicht auf deren „Selbstverantwortung“ pochen
Jens Berger*
Ein „Wohnkomplex“ aus Göttingen macht Schlagzeilen. Das Iduna-Zentrum gilt als Keimzelle zahlreicher Covid-19-Neuinfektionen. Mehrere Bewohner des Plattenbaus stehen bereits unter Quarantäne, nun sollen alle 700 Bewohner mit Unterstützung von Ordnungsamt und Polizei getestet werden. Aus einem sozialen wurde ein epidemiologischer Brennpunkt. Sonderlich überraschend ist das nicht. Wer Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, in Ghettos kaserniert und sich dann nicht mehr um sie kümmert, darf auch nicht auf deren „Selbstverantwortung“ setzen. Nun äußern viele Göttinger ihren Unmut – wie kaum anders zu erwarten auf die Bewohner des Wohnkomplexes und nicht auf die Politik, die diese Menschen alleine gelassen hat.
Das Iduna-Zentrum ist ein heruntergekommener Plattenbau direkt gegenüber vom prestigeträchtigen zentralen Campus der Universität. Ich selbst habe während meiner Studentenzeit in Göttingen in einem vergleichbaren „Wohnkomplex“ gelebt und kenne auch das Iduna-Zentrum aus eigener Erfahrung. Wer hier lebt, steht nicht auf der Sonnenseite des Lebens – neben zahlreichen Drogensüchtigen, Alkoholkranken und hoffnungslosen Existenzen am Rande der Gesellschaft wird der Plattenbau vor allem von sogenannten „Sozialfällen“ bewohnt – Menschen, die meist vom Amt hier einquartiert wurden und finanziell oder organisatorisch nicht in der Lage sind, sich eine bessere Wohnung zu nehmen; ein großer Anteil davon hat einen Migrationshintergrund.
Wohnkomplexe wie das Göttinger Iduna-Zentrum sind moderne Ghettos mitten unter uns. Gerade als „Linker“ schweigt man gerne über die Zustände in solchen Häusern. Das ist verständlich, denn mit Sozialromantik haben sie wenig zu tun. Da sind die Alkoholiker, die ihre Notdurft regelmäßig im Fahrstuhl verrichten oder die gesellschaftlich Ausgegrenzten, die ihren Müll aus dem Fenster schmeißen, da sie nicht mehr den Eigenantrieb aufbringen, sich zum Müllschlucker auf dem Gang zu bewegen. Da ist die Gewalt – Dealer, Beschaffungskriminalität, Clanstrukturen, Gewalt gegen Frauen und Kinder und die vollkommene Hoffnungslosigkeit. Oft ist die Polizei vor Ort, oft der Kammerjäger – Müll und Dreck sind halt ein Fest für Ratten und Kakerlaken. Hin und wieder kommt auch die Feuerwehr, weil wieder einmal ein Drogensüchtiger oder Betrunkener auf der Flucht vorm Leben mit der Zigarette in der Hand weggedöst ist.
Dies alles spielt sich in Göttingen inmitten der Gesellschaft ab. Wenige Meter Luftlinie von Uni, Amtsgericht und Hauptbahnhof entfernt. Doch dahin gehen, wo es weh tut und stinkt, will verständlicherweise niemand. Was mitten im Zentrum der eher provinziellen Studentenstadt hinter den Türen vor sich geht, interessiert die meisten besser situierten Bürger nicht. Man gib sich weltoffen, sozial und liberal. Von den Schattenseiten der eigenen Gesellschaft direkt vor der Haustür will man jedoch lieber nichts wissen. Wahrscheinlich ist man insgeheim sogar froh, dass diese unschönen Probleme auf einen Punkt konzentriert werden, mit dem man selbst keine Verbindungen hat. Doch die Probleme verschwinden nicht, wenn man die Augen schließt.
Dies zeigt der jetzige Corona-Ausbruch. Wie das Virus in den Wohnkomplex kam, ist noch nicht bekannt. Offenbar hat das am Ende des Ramadans stattfindende Zuckerfest eine Rolle gespielt. Einige Bewohner sollen es da mit den Kontaktbeschränkungen nicht so genau genommen haben. Sprecher der Stadt machen „Großfamilien“ für den Ausbruch verantwortlich. Sprecher der damit gemeinten Roma bestreiten diese Vorwürfe und machen ihrerseits den Behörden und den Medien schwere Vorwürfe und beklagen die fremdenfeindliche Hetze, die in der Berichterstattung mitschwingt. Dies ist von außen nur schwer zu beurteilen. Richtig ist aber, dass in keinem der Berichte auf die sozialen Ursachen eingegangen wird.
Es kam, wie es wohl kommen musste. Ein heruntergekommener Plattenbau mit prekären hygienischen Verhältnissen und hunderten Mietern auf engstem Raum, von denen viele Probleme haben, sich im Leben zurecht zu finden, ist nicht nur ein sozialer, sondern auch epidemiologischer Brennpunkt. Ein infizierter Bewohner des Hauses soll es dann mit den Quarantäneauflagen auch nicht so genau genommen haben und munter durch die Stadt spaziert sein – er wurde später von der Polizei dem Richter vorgeführt und setzt nun seine Quarantäne unter Bewachung in einer städtischen Wohnung fort. 75 Kontaktpersonen sind erst gar nicht zum Test erschienen.
Das ist alles eine Tragödie. Doch wer hier an die Vernunft und die Selbstverantwortung appelliert, sollte Anspruch und Realität überprüfen. Kann man von Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – von unserer Gesellschaft ausgegrenzt, alleingelassen und in einem Ghetto der Hoffnungslosigkeit kaserniert wurden, so viel Selbstverantwortung abverlangen? Hat die Gesellschaft sich jemals ernsthaft für die Zustände interessiert, die zu diesen prekären Situationen geführt haben? Haben wir uns jemals ernsthaft darüber Gedanken gemacht? Solange die Bewohner von Ghettos wie dem Iduna-Zentrum „nur“ eine Bedrohung für sich selbst und die anderen Bewohner des Hauses darstellen, waren sie uns herzlich egal. Jetzt, wo es um ein Virus geht, das potentiell auch den Kern dieser Gesellschaft bedroht, ist man plötzlich empört und richtet moralinsauer über die mangelnde Selbstverantwortung.
„Es ist erschreckend, dass es Menschen gibt, die meinen, für sie gelten die Regeln nicht oder für sie wären die Regeln unter bestimmten Umständen außer Kraft gesetzt” – so zitiert der SPIEGEL einen Schulleiter, dessen Anstalt nun prophylaktisch geschlossen wurde. Die Eltern der betroffenen Kinder seien, so der Vorsitzende des Göttinger Stadtelternrats „unglaublich sauer, dass einige so unverantwortlich handeln“. Es steht zu bezweifeln, dass sich diese Eltern jemals mit den prekären Verhältnissen derjenigen auseinandergesetzt haben, über die sie jetzt den Stab brechen. Was haben diese Eltern in der Vergangenheit getan, um den Menschen unter die Arme zu greifen? Wer einen Hund stetig tritt und aus dem Familienverband ausgrenzt, muss sich nicht wundern, wenn er irgendwann beißt. Wer einen Menschen aus der Gesellschaft ausgrenzt, muss sich nicht wundern, wenn er irgendwann die Regeln dieser Gesellschaft nicht mehr befolgt – sei es mit Vorsatz oder weil er schlicht nicht mehr die Energie dafür aufbringt.
Erschreckend ist vielmehr, mit welcher Gleichgültigkeit diese soziale Segregation ignoriert und sogar akzeptiert wird. Wenn man Selbstverantwortung fordert, muss man den Menschen auch das Rüstzeug in die Hand geben, um selbstverantwortlich handeln zu können. Eine Patentlösung dafür gibt es freilich nicht. Auch ich habe keine einfachen Antworten auf diese komplexen Probleme und ihre Ursachen. Hinter jedem der nun gescholtenen Menschen steckt ein Schicksal – Drogensucht, Alkoholismus, Krieg, Vertreibung, psychische Probleme und Langzeitarbeitslosigkeit haben viele Ursachen und es ist nur allzu menschlich, dass viele an diesen Problemen scheitern. Wer diese Schicksale ausgrenzt und sie ihrer Selbstverantwortung überlässt, überlässt sie sich selbst und muss sich über das Ergebnis nicht wundern.
Als das Iduna-Zentrum in den 1970er Jahren gebaut wurde, galt es als Prestigeprojekt des sozialen Wohnungsbaus. 50 Jahre später ist der Traum des harmonischen Miteinanders von Menschen auf allen Sprossen der sozialen Leiter ausgeträumt. Heute ist das Iduna-Zentrum ein Sinnbild der neoliberalen Gesellschaft. Da das Sozialamt auch hier die Obergrenze von 453 Euro Bruttokaltmiete für eine Einzelperson zahlt, gehören die heruntergekommenen 34-Quadratmeter-Appartements mit einem Mietpreis von 13 Euro pro Quadratmeter zu den lukrativsten Geldanlagen der Stadt. Spekulanten bereichern sich, ohne einen Euro in die Sanierung zu investieren. Eigentum verpflichtet? Das war einmal.
So ernten wir am Ende nur das, was uns die neoliberale Ideologie eingebrockt hat. Je mehr der Staat und die Gesellschaft sich zurückziehen und je mehr wir auf Eigen- und Selbstverantwortung pochen, desto größer und desto prekärer werden die Probleme derer, die eben nicht in der Lage sind, ihr Leben selbst in den Griff zu bekommen. Offenbar brauchte es Corona, um diesen Widerspruch ans Licht zu bringen. Dass die Lektion verstanden wurde, ist jedoch unwahrscheinlich. Man ignoriert lieber die Ursachen und kapriziert sich in seinem als gerecht empfundenen Zorn auf die Symptome. In Göttingen empfindet man Wohnkomplexe wie das Iduna-Zentrum mittlerweile als Schandfleck. Man würde die menschlichen Problemfälle lieber aus dem Zentrum der Stadt an den Stadtrand verbannen … aus den Augen, aus dem Sinn.
* Der Text wurde zuerst auf www.nachdenkseiten.de/ veröffentlicht und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Webseite abgedruckt.
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