Lebensfreude ist Widerstand

Interview mit dem Schriftsteller Rafik Schami über sein neustes Buch.

In Ihrem Buch, ‘Eine Hand voller Sterne’ findet man viele Parallelen mit Ihrer Kindheit und Jugend: Wandzeitung, Klosterschule, Bäckerei etc… Ist das Buch eine Autobiografie?

Nein, wenn man versucht, Vergleiche eins zu eins zu ziehen. Ich hatte nie so ein aufregendes Leben wie der junge Held und war nicht so arm wie er. Ich habe nie ein Tagebuch geschrieben etc. Und ja, weil vieles, was er erlebt hat, auch ich erlebt habe. Auch behaupte ich, dass in jedem Held eines Roman ein Stück vom Autor steckt. Ich behaupte, der Autor explodiert beim Schreiben und zerfällt in 1001 Stücke, die sich unter seinen Helden verteilen. Kein Autor der Welt kann außerhalb sich selbst schreiben. Auch wenn er historische und phantastische Romane schreibt. Aber es ist unzulässig, einen Helden mit dem Autor gleichzusetzen.

Das Buch spielt im alten Stadtviertel von Damaskus. Der Protagonist läuft in den Gassen umher, die Leute plaudern dort untereinander. Nachdem Sie nach Deutschland gekommen sind, sagten Sie einmal, “Das sind die Gassen meiner Sehnsucht”. Warum sind die Gassen so wichtig für Sie?

Weil meine ganze Kindheit in ihnen spielte. Ich war täglich länger auf der Gasse, als im Haus meiner Eltern. Ich habe mit zehn, elf Jahren ein altes Fahrrad von meinem ersparten Geld gekauft und mit diesem Fahrrad bin ich jeden Tag durch die Gassen gefahren, habe angehalten, die Spiele der Kinder dort beobachtet, auch die schönen Mädchen angelacht, den Geruch der Gassen eingeatmet, ihrer Geräuschkulisse gelauscht und bin wie berauscht nach Hause zurückgekommen. Ich konnte damals einen genauen Bericht über alle Gerüche und Geräusche der Stadt schreiben, die sich im Laufe der Tages- und Jahreszeit verändern.

Das Buch thematisiert auch Folter, das Verschwinden eines Lehrers etc. Trotzdem strahlt es insgesamt Lebensfreude aus, da es oft witzige Erlebnisse gibt und der Protagonist schöne Sachen erlebt. Woher kommt diese Lebensfreude?

Es ist der heroische, aber unsichtbare Widerstand des Volkes, um seine Menschlichkeit zu retten. Die Zeit, in der der Roman spielt, war die von 1958-1961. Syrien erlebte bis zur Union mit Ägypten eine lange Phase der Demokratie und nun brachte diese Union eine Diktatur an die Macht, die alle Parteien verbot, Geheimdienstler begannen zu foltern und Menschen zu töten. Der Roman wäre unehrlich, wenn er nicht auch das erwähnte. Aber da er ein Roman und kein politisches Buch ist, muss man die Spannung der Geschichte behalten, sonst verwandelt sich das Buch in eine langweilige Agitation oder Moralpredigt.

Sie sind auch wie der Protagonist mit Putschen und Unterdrückungen aufgewachsen. Würden Sie sagen, das hat Ihnen einen Teil Ihrer Kindheit geraubt?

Sicher. Ich werde nie in meinem Leben vergessen, wie ich als Jugendlicher von Putschsoladaten verhaftet wurde, als ich meine Lieblingscousine besuchte, die totkrank war. Wir besuchten sie oft, um sie ein wenig zu unterhalten, und eines Abends wollte sie, dass ich länger bleibe und mit ihr Karten spiele. Auf dem Rückweg durch die kleinen Gassen verhafteten mich Soldaten und wollten mich in den Jeep schleppen. Sie hätte mich umgebracht. Ein tapferer Nachbar kam herunter im Pyjama und flehte die Soldaten an, mich freizulassen und übernahm die Verantwortung. Sie ließen mich frei und der Mann, der mich nicht kannte, sagte mir: “Beeile dich Junge, zu deiner Mutter” und ich rannte, bis ich unser Haus erreichte.

Das Buch zeigt, dass in Damaskus Menschen verschiedener Religionen und Nationalitäten friedlich zusammen leben. Wenn man sich aber die Situation im Nahen Osten ansieht, existiert ein großer Konflikt. Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass dort solche Konflikte bestehen?

Natürlich ist das der Palästina-Konflikt zwischen Juden und Arabern. Dieser Konflikt führte wiederum zum Bürgerkrieg in Jordanien (September 1971) und zum Bürgerkrieg im Libanon und zu den weiteren Kriegen zwischen Arabern und Israelis. Ich bin schon als Kind mit diesem Konflikt aufgewachsen bin. Meine Gesellschaft wurde dadurch militarisiert. Die Herrscher aller arabischen Länder vergeuden Milliarden für den Krieg und bei uns mangelt es an großen Entwicklungen in der Wissenschaft, Medizin, am Aufbau einer zivilen Gesellschaft, an Demokratie und Freiheit. In Syrien leben die Menschen seit über 50 Jahren unter Diktatur und Ausnahmezustandgesetzen, d.h. unter Kriegsbedingungen. Der Staat hat es leicht, seine Gegner zu vernichten im Namen der Befreiung Palästinas. Es gibt sogar eine Abteilung des syrischen Geheimdienstes namens “Palästina-Abteilung” und sie ist die brutalste.

In der Klosterschule ist es dem Protagonisten unter Strafe verboten, seine Muttersprache (Arabisch) zu sprechen. Sie haben diese Situation in Ihrer eigenen Jugend selbst erlebt. Welche Auswirkungen hat es, wenn man seine Muttersprache nicht sprechen darf?

Es ist ein verheerender Verlust für die Türken und für die Araber, dass sie weder Aramäisch noch Kurdisch noch andere lokale Sprachen fördern und unterstützen. Damit wären die Türkei und Arabien viel bunter und lebendiger. Es ist ein Zeichen der eigenen Selbstverachtung, wenn man so unsicher wird, dass ein anderer Mensch im Land eine andere Sprache spricht. Ich sage meinen Landsleuten immer: Die Kalifen im 7. oder 10. Jahrhundert waren fortschrittlicher und selbstbewusster als unsere heutigen Herrscher. Sie erlaubten allen Völkern zu sprechen, wie sie wollten und es war die Regel, dass Christen, Juden, Perser u. a. hohe Posten im Kalifat erreichen konnten. Heute ist es in fast allen arabischen Ländern unvorstellbar, dass ein Christ, Jude oder Kurde Präsident wird. Warum eigentlich nicht? Schauen Sie sich die westlichen Demokratien an. Dort ist es möglich.

Im Kloster fühlte ich mich krank, denn ich liebte den Gesang und ich sang arabische Lieder heimlich. Ich konnte am liebsten Witze mit Dialekt erzählen aber durfte nicht. Deshalb verließ ich diese Klosterschule nach drei Jahren und hätte mein Vater mich nicht sofort in ein sehr gutes Krankenhaus gebracht, ich wäre tot.

Sie sind in Syrien aufgewachsen und 1970 nach Deutschland emigriert. Acht Jahre später erschien Ihr erstes Buch auf deutsch. Warum? War es nicht schwer, in einer fremden Sprache zu schreiben?

Zunächst eine Vorgeschichte. Ich habe bereits in Syrien Kurzgeschichten veröffentlicht. Ich war aber naiv zu glauben, man könne im Ausland wie Gibran Khalil Gibran und andere berühmte Autoren des Exils und der Emigration auf Arabisch veröffentlichen. Das war eine Illusion, denn die Lage hat sich seit Gibran dramatisch verschlechtert. Die arabischen Verlage lehnen prinzipiell jeden Exilanten ab, weil sie sich nicht mit irgendeiner Regierung anlegen wollen. Nach ein paar Jahren und Hunderten von Versuchen, meine Manuskripte auf Arabisch unterzubringen, begann ich erst mit einer Selbstkritik meiner Illusion, dann mit der Frage, warum schreibe ich nicht auf deutsch. Es ist die Sprache meines Alltags hier und ich rede deutsch mit allen Menschen, die hier leben. Mein Deutsch war damals gut, aber es war mir bewusst, dass ich das literarische Deutsch neu lernen muss und so habe ich zwei Jahre lang Gedichte, Romane, Satiren, Essays von Klassikern der deutschen Sprache abgeschrieben, um zu lernen, wie das literarische Deutsch funktioniert. Danach war ich im Stande, das so auszudrücken, was ich sagen wollte, dass ich es auf Arabisch nicht besser ausdrücken kann. Natürlich ist es schwer, in einer fremden Sprache zu schreiben. Noch schwerer wird das in einem Land, das weder lange Tradition als Kolonialmacht hat noch ein Tiegel vieler Kulturen ist. Die deutschen Autoren und Intellektuellen haben eine große Schwierigkeit, anzuerkennen, dass ein Türke, ein Syrer oder ein Spanier in ihrer eigenen Sprache besser als deutschen Autoren schreiben kann.

Sie leben nun seit langer Zeit in Deutschland, schreiben aber noch oft über Ihre Heimat. Wie erhalten die Geschichten über Ihre Heimat ihre Lebendigkeit?

Ich schreibe viel über Damaskus. Ich bin sozusagen der Damaszener Autor (Katib Schami) und werde es bleiben. Geschichten, vor allem kurze Satiren schreibe ich auch aber gelegentlich über das Leben in Deutschland. Wie ich diese Lebendigkeit beibehalte? Ich habe eine riesige Bibliothek in arabischer Sprache über alles, was in Damaskus passiert, sogar Straßenkarten und ihre Veränderungen, ein Handwerkerbuch aus dem 19. Jahrhundert, Kochrezepte, Sitten- , Sprichwörter-, Märchen-, Geschichts-, Tage-, Hochzeits- und Beerdigungsverlaufs- und andere Bücher. Alle sind über Damaskus, dass sogar meine Familie in Damaskus mich manchmal fragt, wenn sie nach irgendetwas sucht. Außerdem telefoniere ich seit 20 Jahren täglich mit Damaskus. Freunde und Verwandte erzählen mir kuriose Geschichten, weil sie wissen, dass ich gerne zuhöre. Das ist übrigens meine beste Quelle, die Zunge der anderen.

In arabischen Ländern sind Ihre Bücher meist verboten oder werden zensiert. Welche Gefühle löst dies in Ihnen aus?

Meine Bücher erscheinen nun seit drei Jahren in Beirut unzensiert. Ich musste 30 Jahre warten, bis ein Iraker kam, der selbst vor Saddam Hussein geflüchtet war und meine Bücher liebevoll und unzensiert in Beirut herausgibt. Das sagt alles über den Zustand der Demokratie in Arabien.

Mehmet Salim

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