Erdogans Verfassungsänderungen am Scheideweg

Nach einem jahrelangen politischen Streit um die Modernisierung der noch unter Militärherrschaft verabschiedeten türkischen Verfassung muss nun das Volk entscheiden. Vor dem Referendum am kommenden Sonntag (12. September) verspricht die Regierungspartei AKP den Bürgern mit mehr als 20 Änderungen mehr Demokratie und Freiheit. Kritiker aus der Opposition dagegen warnen, die islamisch-konservative AKP habe vor allem ein Ziel: Kontrolle über die Justiz als Bollwerk der säkularen Republik.

Es ist nicht ohne politische Symbolik, dass das Referendum genau am 30. Jahrestag das Militärputsches abgehalten wird. Das Reformpaket macht zudem den Weg für eine Strafverfolgung der Putschisten frei. Das Volk habe die Möglichkeit, den Militärherrschern von damals eine Quittung zu verpassen, sagt der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der für ein «Ja» ist. Er erwartet, dass viele Menschen zustimmen, die bei einer Parlamentswahl nicht für die AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan votieren würden.

Erdogan verspricht, den Einfluss des Parlaments und die Rechte der Bürger zu stärken. So soll das Recht auf den Schutz persönlicher Daten und auf Bewegungsfreiheit gestärkt werden. Gleichzeitig wird die Macht von Institutionen beschnitten, in denen die säkulare Opposition erheblichen Einfluss hat. So wird die Prozedur zur Ernennung höchster Richter abgeändert, so dass die Machtverhältnisse im Parlament dabei wirksam werden. Weil nur über das Gesamtpaket entschieden wird, können die Bürger allerdings keine Feinkorrekturen vornehmen.

Auf dem Taksim-Platz im Zentrum von Istanbul haben beide Seiten ihre Wahlkämpfer in Stellung gebracht. Vor einem fettgedruckten «Evet» (Ja) und dem Bild von Erdogan wirbt der der AKP-Lokalpolitiker Musafer Sert um Zustimmung. «Wir erwarten 60 bis 65 Prozent Ja- Stimmen», sagt er. «Wir passen die Verfassung an europäisches Recht an.» Gegnern des Vorhabens, die an dem Stand zu Wortgefechten erscheinen, sagt er, dass die Türkei gestärkt werde. «Es bleibt immer friedlich. Ein bisschen europäisch sind wir ja schon», sagt er augenzwinkernd und wendet sich wieder seinen ausgelegten Werbebroschüren zu.

Aber politisch tief gespalten ist das Land schon. Gegen die Änderung macht vor allem die säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) Front, deren Anhänger wichtige Bereiche der Justiz und des Militärs kontrollieren. Die CHP war 1923 von Mustafa Kemal Atatürk, dem ersten Präsidenten der modernen Türkei, gegründet worden. Sie sieht sich als Hüterin des atatürkschen Erbes und beansprucht seit Jahrzehnten – unabhängig von Wahlergebnissen – Macht über den Staatsapparat.

Die große kurdische Minderheit hält sich die Entscheidung offen. Zwar ruft die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) als aktuell wichtigste Kurdenpartei zu einem Boykott auf. Allerdings erscheint dies taktisch motiviert, weil Erdogan wichtige Forderungen wie die nach einer Senkung der türkischen Zehn-Prozent-Hürde bei Parlamentswahlen nicht erfüllt hat.

Kurden-Politiker Ahmet Türk sagt dazu, von einem moralischen Standpunkt aus gesehen sei er für das Reformpaket. «Aber nicht ein einziger Artikel verbessert die Situation der Kurden» sagt er. «Wir können nicht Nein sagen, haben aber auch keinen Grund mit Ja zu stimmen.

Erdogan vertröstet Kritiker, die weitere Reformen fordern, auf die Zeit nach der Parlamentswahl im kommenden Jahr. «Das ist nun ein wichtiger erster Schritt», sagt er. «Wenn sich die erste Tür öffnet, geht eine Tür nach der anderen auf, und zum Schluss auch das große Tor.»

Detaillierte Post auf SABAH AVRUPA – Die Türkische Tageszeitung.

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