Erdoğan und die Justiz
Die Journalistin, Kolumnistin und Polit-Moderatorin Nazlı Ilıcak ist eine der mächtigsten Meinungsmacherinnen in der Türkei. Ihre kontroversen Schriften, ihre Sendungen und ihre Stimme werden diskutiert, kritisiert, verurteilt, aber nicht ignoriert. Die studierte Soziologin, die in einem katholischen Internat in Istanbul war und danach an der Universität von Lausanne studierte, sieht in der traditionellen Moderne keinen Widerspruch, sondern eine Wirklichkeit der Türkei. Sie setzt sich unter anderem für das Kopftuch ein, das sie selbst nicht trägt. Nazlı Ilıcaks schreibt in ihrer SABAH-Kolumne über das, worüber am nächsten Tag alle sprechen.
Tayyip Erdoğan hat sehr unter der Justiz gelitten. Im Januar 2001 haben die vom Innenminister Sedettin Tantan beauftragten Mehmet Günaydın, Chefinspektor im Staatsdienst, Ibrahim Saydam, Finanzinspektor und Doğan Atamer, Inspektor des Industrieministeriums, festgestellt, dass es bei den 10.275 Ausschreibungen der 19 Unternehmen, an denen die Stadt Istanbul, die ISKI (Istanbuler Wasser- und Kanalisationsverwaltung) und IETT (Elektrische Straßenbahn und Tunnelverwaltungsdirektion in Istanbul) Anteile hat, keine Korruption und Amtsvergehen gab (Untersuchungsbericht vom 20. Juni 2001).
Tantans Nachfolger Rüştü Kazım Yücelen hat am 21. Juni 2001 für Günaydın den Chefinspektor im Staatsdienst Candan Eren berufen. Eren hat den alten Bericht zerrissen und weggeworfen. Er hat behauptet Erdoğan hätte eine kriminelle Organisation gegründet, die 1 Milliarde Dollar für seine politische Zukunft unterschlagen hat. Der Minister hat die Verurteilung von Tayyip Erdoğan zugelassen. Erdoğan hat bei der 2. Kammer des Staatsrates Berufung eingelegt. Die Kammer vertrat die Ansicht, dass eine Bandengründung nicht gegeben ist und Erdoğan aufgrund der Vorwürfe Pflichtversäumnis und Amtsmissbrauch verurteilt werden könnte; was aber aufgrund der Rahşan Amnestie von 1999 unter Aussetzung fällt. Der Rat ließ eine Verurteilung Erdoğans nicht zu (11. Dezember 2001). Der Grund für diese Entscheidung war, dass der Bürgermeister für die Aktivitäten von gemeinen Wirtschaftsunternehmen (BIT) wie KIPTAŞ, ISBAK, ISTAC keine juristische Verantwortung trägt. Wenn bei BITs, die dem privaten Recht unterliegen, Korruption begangen wurde, können dafür nur die Vorstandsvorsitzenden und Vorstandmitglieder verantwortlich gemacht werden.
Sabih Kanadoğlu, Staatsanwalt des obersten Gerichtshofes, warf dem Staatsrat vor die Grenzen seiner Befugnis zu überschreiten und forderte die Verurteilung Erdoğans nach dem Paragraphen 313 des türkischen Strafgesetzbuches wegen “Aufbau einer Organisation mit der Absicht Verbrechen zu begehen“. Genauso wie der Staatsrat hat auch das Gericht entschieden, dass der Bürgermeister von Istanbul keine juristische Verantwortung für die BITs trägt und nur wegen Amtsmissbrauch verurteilt werden könnte, diese aber unter die Aussetzung Amnestie fällt.
Detaillierte Post auf SABAH AVRUPA – Die Türkische Tageszeitung.