Böse Fatmas leben länger – 1979

Der Oma-Fatma-Kennenlern-Urlaub 1977 war so anstrengend gewesen, dass wir 1978 in Deutschland blieben, um uns noch davon zu erholen. Wir gingen jeden Tag in den Tierpark. Meine Eltern spazierten mit mir durch die Anlage machten aber einen großen Bogen um die Aasgeier. Die Vögel sahen einfach aus wie Oma Fatma und Opa Veli. Zwar erinnerten meine Großeltern väterlicherseits in regelmäßigen Abständen mit Droh- und Erpresserbriefen an ihre Existenz, aber meine Eltern versuchten diese schriftlichen Beschimpfungen weitestgehend zu ignorieren. Dazu muss man wissen, dass damals Briefe aus der Türkei vier bis acht Wochen brauchten, um anzukommen, wenn sie denn ankamen.

Nicht nur wir erholten uns, auch unser Geldbeutel tat der Abstand von Oma Fatma und Opa Veli gut. Meine Eltern sparten und wollten das Geld investieren, bevor Papas Eltern es ihnen wegnehmen konnte. Da sie davon ausgingen, in absehbarer Zeit wieder in die Türkei zurückzukehren, meine Mutter bestand darauf, dass diese absehbare Zeit die Zeit nach Oma Fatmas Tod ist, wollten sie das Geld in der Heimat anlegen.

Mein Vater wusste auch ganz genau, was er mit dem Geld machen wollte: Gewächshäuser bauen. Wer reich war, baute seinen Gurken und Tomaten ein Glasdach auf den Kopf, die Pflanzen der armen Leute waren obdachlos. Mit diesen Gewächshäusern wurden viele Menschen aus Gazipaşa reich, sehr reich. Nur Oma Fatma und Opa Veli nicht, die blieben arm und schuld war Papa, weil er ihnen kein Geld schickte und nicht sie selbst. Zwar hatte Oma Fatma viel Land geerbt, aber nach einem Streit mit Opa Veli fiel der Großteil davon dem Staat zu. Es war nämlich so: Viele Menschen in der Türkei hatten damals Besitz, aber keine Urkunden. Der Staat rief seine Bürger auf, sich bis zu einem bestimmten Tag zu melden und Land und Gut anzugeben, sodass offizielle Unterlagen erstellt werden konnten. Weil Opa Veli es aber doof fand, dass Oma Fatma so viel Land hat und damit sie es ihm nicht dauernd unter die Nase rieb oder einfach um sie zu ärgern, erzählte er ihr nichts von dieser Frist, die ablief. Der Staat beschlagnahmte daraufhin eine Menge von Oma Fatmas Ländereien – zurzeit mit einem Gegenwert von ca. 4 bis 5 Millionen Euro. Jedes Mal, wenn ich an diesen Ländereien vorbeikomme, auf denen nun Luxushotels stehen, verfluche ich Opa Veli und tröste mich mit dem Gedanken, dass er nun in der Hölle schmort.

Wir machten uns also wieder auf den Weg. Nach einer langen, beschwerlichen Reise kamen wir wieder in Gazipaşa an, wurden von meinem Onkel mütterlicherseits abgeholt und nach Macardorf gefahren. Bei unserem Anblick drehten Oma Fatma und Opa Veli durch. Natürlich nicht vor Freude, sondern aus Wut. Um gerecht zu bleiben, sie drehten beim Anblick meiner Mutter durch. Die war nämlich wieder schwanger, hochschwanger. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, bekam sie auch noch Zwillinge. Opa Veli war überzeugt davon, dass sie das mit Absicht geworden ist, um ihn zu ärgern. Böse riss mich Oma Fatma aus der Hand meiner Mutter und nahm mich mit ins Haus, die Koffer und meinen Vater auch. Meine Mutter musste draußen bleiben. Ich schrie wie am Spieß, meine Mutter trommelte verzweifelt an die Tür und bettelte um mich – sozusagen “Nicht ohne meine Tochter“ auf Türkisch. Da ich mit einem Herzfehler geboren wurde, waren solche Aufreger für mich gefährlich. Meine Mutter rief immer wieder: „Lass sie nicht weinen, sie kann sterben.“ Doch Oma Fatma beeindruckte dieser dramatische Quatsch überhaupt nicht. Sie rief zurück: „Na und? Du bekommt doch zwei Neue!“ Mich beschimpfte sie, weil ich nicht ruhig war und nicht zu ihr hielt. Ich schrie noch mehr und irgendwann schmiss sie mich raus. Endlich war ich bei meiner Mutter, die kurz vor einer Frühgeburt war. Opa Veli lästert über das Gewicht meiner Mutter und sagte, dass sie fetter ist als die Kuh und das Rind zusammen. Dann schwärmte er davon, dass Oma Fatma ihre tolle Figur nie verloren hat und auch schwanger immer sehr schlank war. Oma Fatma stimmte ihm zu und schwärmte auch von ihrer Figur. Sie kamen überein, dass meine Mutter in Deutschland bestimmt den ganzen Tag nur Schweinefleisch frisst. Sie sehe auch ein wenig aus wie ein Schwein.

Die flotte Fatma hatte natürlich längst unser Gepäck reingetragen und ausgepackt. Diesmal war auch mein Onkel, das jüngste Kind der Familie da. Er lag auf dem Kanapee und interessierte sich nicht für uns. Weder für mich, noch für seinen Bruder. Er war wahrscheinlich high. Offiziell war er Student, noch offizieller ein fauler Nichtsnutz, der seine Zeit mit Hippie-Touristen am Strand von Antalya verbrachte. Vielleicht war er ja auch sauer auf meinen Vater, weil er ihm kein Geld geschickt hatte – er ist der einzige unter den Kindern, der nach seinen Eltern kommt und wofür er auch als einziger von ihnen geliebt, entschuldigt, geduldet wurde.

Irgendwann hatten die Nachbarn die Schnauze voll von den Streitereien meiner Familie und schritten ein. Wir kamen bei der Familie unter, die direkt neben Oma Fatma und Opa Veli wohnten. Aber abends kamen meine Großeltern und sie befahlen uns, mitzukommen. Sie hatten Angst, dass die Nachbarn meinem Vater das ganze Geld abnehmen könnten. Zumindest sagten sie das laut und deutlich. Sie sagten auch, dass sie nicht mit ansehen werden, wie ihr missratener Sohn von diesen raffgierigen Blutsaugern übers Ohr gehauen wird. Eigentlich wollten meine Eltern nicht mitgehen, aber der Anblick der entsetzen Nachbarn überzeugte sie vom Gegenteil.

Im Haus meiner Großeltern wurde uns ein Schlafplatz zugewiesen: auf dem Fußboden. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass wir Kissen bekamen. Meine Mutter, die unübersehbar hochschwanger war, lag die ganze Nacht wach. Ich auch. Wir hatten nämlich nichts zu essen bekommen. Mein Vater wollte mir zwar etwas machen, aber Oma Fatma hatte die Küche abgeschlossen. Also musste er in der Dunkelheit raus und Tomaten vom Feld holen, damit ich wenigstens irgendwas zu essen bekam. Bei Morgendämmerung schliefen wir ein. Opa Veli weckte meinen Vater, indem er ihn einfach in den Bauch trat, mehrmals. Dann wollte er wissen, wie viel Geld er dabei hat. Papa erklärte entschlossen, dass er mit seinem Geld ein Stück Land kaufen und Gewächshäuser darauf bauen will. Opa Veli und Oma Fatma fanden die Idee sehr gut. Sie zwangen ihn, das Stück Land von ihnen zu kaufen. Also, dass er für sein Erbe bezahlte.

Obwohl wir noch nicht einmal 24 Stunden bei ihnen waren, hatten sie es geschafft meine Eltern zu brechen. Mein Vater stimmte zu und schlug ein. Opa Veli verkaufte ihn zu einem überhöhten Preis ein Stück Land in bester Lage. Weil er meinem Vater aber überhaupt nicht vertraute, verlangte er die Kaufsumme sofort. Papa bezahlte, weil er keinen Krieg haben wollte. Ein Termin beim Notar wurde vereinbart. Aber vorher sollten meine Eltern erst einmal lernen, was sie da machen wollten. Oma Fatma bestand darauf, dass meine Mutter auf ihren Gurkenfeldern arbeitet. Mit mir in der Hand ging Mama los. Ihre Aufgabe war es, die Gurken hübsch in Kisten zu packen. Mit ihrem dicken Bauch konnte sie sich zwar kaum beugen, aber sie gab sich Mühe. Das genügte Oma Fatma nicht. Sie wurde sauer, weil Mama nicht schnell genug arbeitete. Um sie anzutreiben bewarf Oma Fatma sie regelmäßig mit Gurken. Als Mama sich weigerte Kisten zu schleppen, bewarf Oma Fatma sie eben auch mit diesen. Ich fand es erst gar nicht schlecht auf dem Feld. Man konnte so gut spielen. Dann aber nahm ich eine Gurke und wollte gerade reinbeißen als Oma Fatma sie mir wegnahm. Sie schrie mich an, ich solle gefälligst ihr Geld nicht wegfressen und dafür ein wenig mitarbeiten. Dann haute sie mir zur Warnung mit der Gurke auf den Kopf und aß sie dann auf. Manchmal kam es vor, dass einige Dorfbewohner stehen blieben und mit Oma Fatma redeten. Wenn sie fragten, wer das süße, kleine Mädchen, also ich, denn sei, antwortete Oma Fatma bestimmt, dass ich das uneheliche Kind bin, dass meine Mutter heimlich mit in die Ehe gebracht hat. Dann schlug sie mich und tätschelte dann großzügig meinen Kopf.

Die Hitze, die Arbeit und der andauernde Psychoterror sorgten dafür, dass es meiner Mutter immer schlechter ging. Oma Fatma war zwar überzeugt davon, dass sie lügt, sich nur anstellt und einfach nur eine faule Kuh ist, die sich vor der Arbeit drücken will, aber der Arzt war anderer Ansicht. Er verschrieb Mama Ruhe und gesundes Essen, vor allem Fleisch. Im Gegensatz zu meinen Großeltern, mochte mein Vater seine Frau. Er ging los und kaufte Fleisch, eigentlich kaufte er die Fleischerei auf. Beim Anblick der Einkäufe wurde Oma Fatma richtig wütend. Sie war der Meinung, dass meine Mutter überhaupt nichts zu essen bekommen sollte. Wahrscheinlich wäre sie gar nicht schwanger, sondern einfach nur fett. Mein Vater bat seine Mama, meiner Mama ein wenig Fleisch zuzubereiten. Oma Fatma kochte tatsächlich. Sie packte alles in einen riesigen Topf. Als das Fleisch gar war, ging sie damit auf den Dorfplatz, schüttelte es auf den Boden und verfütterte es an die Straßenhunde. Als mein Vater sie zur Rede stellte, sagte sie, dass sie eben Hunde mag, meine Mutter aber nicht. Außerdem muss man gut zu Tieren sein, die wären nämlich nicht so schlecht wie Menschen.

Damit meine Mutter nicht wegen Mordes im Gefängnis landet, beschloss mein Vater die restlichen Tage bei meinen Großeltern mütterlicherseits zu verbringen. Oma Ünzile bemerkte, dass ich seit dem letzten Mal ganz schön gewachsen war. Größer sein hieß ja arbeiten können. Sie zwangen mich auf die Hühner aufzupassen. Das heißt, ich musste darauf achten, dass die Hühner nicht die Paprikas, die Tomaten und die anderen Pflanzen anpicken. Aber als ich aus Langeweile anfing unreife Tomaten abzupflücken drehte sie durch und sagte, dass ich genauso böse bin wie meine Oma Fatma. Opa Izzet war entzückt, dass ich nun sprechen gelernt hatte, was ich mit neun Monaten leider nicht konnte. Er war entschlossen, mir die Geschichte der Türkei näher zu bringen. Es war schließlich seine Aufgabe, mich nicht an die Nazikultur zu verlieren. Allerdings verstand ich mit fast drei Jahren nicht, was er da so erzählte und hörte ihm nicht zu. Irgendwann gab er auf, aber nicht ohne vorher festzustellen, dass ich leider genauso dumm bin wie mein Opa Veli.

Während ich also dumm, böse, aber auch irgendwie glücklich die Tage im Dorf meiner Mutter genoss, war mein Vater mit seinen Gewächshäusern beschäftigt. Er machte Behördengänge, informierte sich über Steuern, traf sich mit Bauunternehmern und Großhändlern. Dann kam der Tag der Urkundenbesieglung. Doch Opa Veli konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass er meinem Vater das Stück Land verkaufen wollte und das Geld bereits erhalten hatte. Er schaltete auf stur und der Termin konnte nicht wahrgenommen werden. Oma Fatma konnte sich auch nicht an die Geldübergabe vor ihren Augen erinnern. Sie war sich sogar sehr sicher, dass so etwas niemals stattgefunden hat. Man stritt sich wieder einmal und einigte sich darauf, dass mein Vater das Land ein zweites Mal kaufen darf. Da bereits alles Mögliche wie z. B. Baugenehmigung in die Wege geleitet war, stimmte Papa zu. Opa Veli sagte, dass Papa anscheinend an Wahrnehmungsstörungen leidet und sich nicht schäme seinen Vater zu betrügen. Einen zweiten Termin beim Notar wollte er nur machen, wenn Papa sofort die Kaufsumme rausrückt. Natürlich weigerte sich Papa, aber nicht lange. Opa Veli schlug ihn einfach. Immer wieder eine Ohrfeige ins Gesicht. Man einigte sich friedlich darauf, dass Opa zumindest die Hälfte der Summe bekommt. Kurz vor dem Termin erpresste er meinen Vater. Wenn er die andere Hälfte nicht zahlt, kommt Opa Veli nicht mit. Also zahlte Papa, denn in zwei Tagen musste er mit uns zurück nach Deutschland fliegen. Der Termin fand statt, doch Opa Veli behauptete vor dem Notar, dass er keinen Cent von Papa bekommen hat. Wer wäre denn so bescheuert vor dem Notartermin zu zahlen, so etwas mache man doch nach der Beurkundung. Der Notar stimmte ihm zu. Keiner wäre so blöd. Also zahlte mein Vater für das Stück Land, dass er nach dem Tod meiner Großeltern sowieso geerbt hätte, dreimal eine überhöhte Summe. Er tröstete sich aber damit, gut investiert zu haben. Er irrte sich. Sehr sogar.

Candan Six-Sasmaz

Detaillierte Post auf SABAH AVRUPA – Die Türkische Tageszeitung.

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