DIe Türkei bespitzelt in Europa

DIe Türkei bespitzelt in Europa

Der österreichische Integrationsexperte und Soziologe Kenan Doğan Güngör verkündete zunächst über seinen Social Media Account, dass seitens der Türkei zwei Haftbefehle gegen seine Person anstehen. Güngör ist damit einer von vielen Hunderten in Europa, die vor der grenzüberschreitenden Zensur der Meinungsfreiheit durch die Türkei nicht mehr sicher sind. Wir haben mit ihm über diesen Umstand gesprochen.

Zeynem Arslan

Was ist der letzte Stand seit Ihrer Verkündung über zwei Haftbefehle der Türkei gegen Sie? 

Es war überhaupt schwierig herauszubekommen, ob ich in der Türkei gesucht werde. Der Anwalt kann das nur bei der türkischen Staatsanwaltschaft anfragen, die wiederum nach Provinzen organisiert sind. Bei mir liefen zwei Verfahren in [der westtürkischen Provinz] Balıkesir einmal wegen „Beleidigung des Präsidenten“ und einmal wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“. Aktuell wird nur noch wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“ ermittelt. Es ist ungewöhnlich, dass eine Ermittlung einfach so wegfällt. Das könnte daran liegen, dass der politische Druck so groß war, dass der „banalere Vorwurf“ weggelassen wurde, denn „Erdoğan-Beleidigung“ ist mittlerweile schon ein Witz geworden (Anm. Es laufen derzeit 160.000 Verfahren wegen Beleidigung des Präsidenten).

In einem Ihrer Interviews berichten sie von einer Spitzel-App. Wie funktioniert diese App?  

Die Spitzel-App „EGM-Mobil“ ist eine Applikation, die niederschwellig und sehr einfach zu finden ist. Genauso die Telefonnummer 140 oder 150 sind Möglichkeiten, die einen sehr Kunden- und Bediener-freundlichen Service anbieten. Man kann also für das türkische Innenministerium und der Polizei sehr einfach Fotos und Videos hochladen und Namen bekanntgeben, die in der Türkei zentral ausgewertet werden. Nach 2016 hat sich die Bespitzelung geändert und wird nicht mehr nur von Amtsleuten und Beamten, sondern sehr offensiv von Bürgern unternommen, die sich proaktiv für das „Vaterland“ einsetzen möchten.

Wichtig anzuführen ist, dass die Bespitzelung bisher immer gegen marginalisierte und oppositionelle Gruppen, wie z.B. Linke und kurdische Gruppen eingesetzt wurde und die konservativen und rechten Eliten der Türkei davon relativ ausgenommen und geschützt waren. Seit dem Putsch 2016 herrscht innerhalb des rechten Systems auf einmal massives Misstrauen gegeneinander und alle beschuldigen sich gegenseitig.

Welcher konkreten Aufgabe sehen Sie sich als Person des öffentlichen Lebens gestellt, wenn wegen Meinungsäußerung auch gegen Sie Haftbefehle seitens Türkei erfolgen? 

Ich gehe eigentlich sehr ungern mit persönlichen Angelegenheiten als mit meiner Profession in die Öffentlichkeit. Doch wenn man sieht, was in Österreich politisch passiert, dass von einer zum Teil auch sehr populistischen „Anti-Erdoğan-Position” plötzlich zu einer komischen Form der Nähe, des Vertrauens und Kuschelkurses ohne – und das ist dann auch meine große Kritik – einer tieferliegenden, sondern nur sehr wagen und schwammigen außenpolitischen Kontur wechselt, möchte man auf herrschende Zustände hinweisen, die nicht ignoriert werden können. Dass jetzt vom österreichischen Bundeskanzler, bis zum Außenminister und Wiener Bürgermeister alle in die Türkei gegangen sind, um Erdoğan zu hofieren, ohne Evidenz und Grund – außer, dass man im Zusammenhang mit der Ukraine vielleicht ein gutes Spiel mit der Türkei haben wollte, hat mich geärgert. Die vorauseilende Hofhudelei Erdoğans ohne Not und Grund – und das mit der Frage der politischen Gewichtung Österreichs, das auch eine komische Form der Selbstüberschätzung drinnen hat, waren Hintergründe für mich. Ich habe auch jene Menschen im Auge, die eben nicht die Öffentlichkeit haben, die ich habe; die es nämlich viel härter getroffen hat.

Wie sind diese kurzfristigen Erdoğan-Besuche aus Sicht der österreichischen Politik zu interpretieren? 

Österreich ist eines der Länder gewesen, die auf der EU-Ebene eine zugespitzte Position gegen die Türkei verfolgt hat. Die Außenpolitik war unter Sebastian Kurz (ehem. Bundeskanzler) sehr Türkei-kritisch und man muss sagen, dass auch Erdoğan massiv an der Zuspitzung gearbeitet hat. Das kam der österreichischen Regierung zugute, die mit dieser Türkei-skeptischen Haltung Punkte sammeln konnten. Ich glaube, dass mit dem Wegfall der Kurz-Mannschaft eine paradigmatische Neuorientierung stattfindet; man möchte sich ins alte Fahrwasser zurück bewegen und Richtung paradigmatische Mitte und Kooperation positionieren. Das kann man ja grundsätzlich begrüßen, denn das politische „Wir sind entweder ganz im Konflikt“ oder „Wir sind im Kuschelkurs“ sind beide zu starke Positionen. Im Hintergrund der Ukraine und der Energiekrise, wo die Türkei das außenpolitisch sehr gut genutzt und jetzt eine Schlüsselrolle eingenommen hat, kann ein Argument dafür sein, dass wir jetzt für unsere Interessen in Kontakt treten müssen. 

Können Sie das näher ausführen? 

Die Themenfelder und Interessenübereinkünfte und Felder, wo es diese Übereinkünfte gibt und nicht gibt, müssen klar definiert werden. Ich glaube diese klare Positionierung fehlt mir. Wenn man sich die letzten Jahre anschaut, sieht man, dass die Türkei gerade unter Erdoğan in völliger Selbstüberschätzung ihrer Macht, was sie zum Teil auch hat, permanent Europa vorgeführt hat und die Europäer im Sinne der Diplomatie vieles geschluckt haben. Was sind demokratische Werte, wenn man nicht dazu steht und vertritt? 

Ganz problematisch fand ich den Besuch des Bürgermeisters von Wien, weil es ist verständlich wenn sich Staatspräsidenten und Außenminister treffen, aber wenn der Wiener Bürgermeister bei einer Bürgermeister-Veranstaltung teilnimmt, bei der nur ein AKP-Netzwerk von AKP-Bürgermeistern sind, und es versäumt seine Amtskollegen zu besuchen, die unter dem AKP-Machtapparat massiv bekämpft und unter Druck gesetzt werden, dann stimmt das Verhältnis nicht. Was sucht also ein Bürgermeister bei einem Staatspräsidenten? Es ist politisch falsch und es ist auch institutionell eine völlige Überschätzung der eigenen Gewichtigkeit. 

Was können Sie den Betroffenen für den Umgang mit der Situation empfehlen? 

Politisch ist es entscheidend, dass versucht wird mit den Demokraten, den Linken, den Liberalen, den Antiautoritären, den Antitotalitären in der Türkei in Kontakt und Dialog zu treten. Es gibt Wege und wir haben gerade mit Ukraine gesehen, wie schnell es möglich war, dass auf einmal die russischen Medien keine Sendemöglichkeiten mehr hatten. Mir ist es wichtig, dass der Fall zwar über meine Person transportiert wird, aber dann einen politischen Wert kriegt. Es gibt mittlerweile zwei parlamentarische Anfragen Richtung Außen- und Innenministerium. Und es gibt eine große mediale Aufmerksamkeit. Außer mit der FPÖ (rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreich) arbeite ich mit allen Parteien und Institutionen zusammen und mache Projekte. Für mich ist immer die inhaltliche Position wichtig und da bin ich immer mit meiner Expertise gefragt. Ich weiß, dass viele Sozialdemokraten den Kopf geschüttelt haben, über das, was passiert ist; Ich möchte gerne, dass es politisch weitergeht ohne, dass das auf meine Person reduziert und dann wieder vergessen wird. Ich möchte, dass die hunderten und tausenden Betroffenen in Österreich und Europa mehr gehört werden.

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