Coronakrise darf keine Bildungskrise werden

Coronakrise darf keine Bildungskrise werden

Sedat Kaya

Wir sprachen mit Fredrik Dehnerdt, promovierter Hochschullehrer und seit einigen Jahren stellvertretender Vorsitzender der Bildungsgewerkschaft GEW in Hamburg über die Bildung während und nach der Corona-Zeit.

Aufgrund der Corona Pandemie waren die Schulen fast zwei Monate geschlossen. Was hatte das für Auswirkungen auf die Situation der Schüler, ihre Familien und Lehrer?
Viele und die endgültigen Auswirkungen sind noch nicht abzusehen. Bei den Schülern besteht die Gefahr, dass sich durch das Homeschooling und ungleiche Zugänge die Bildungsungerechtigkeiten verschärfen. Eltern sind der Doppelbelastung von Arbeit und häuslicher Betreuung/Unterstützung ausgesetzt. Lehrkräfte müssen in dieser Zeit der Unsicherheit ihren Unterricht völlig neu strukturieren und auf Präsens- und Online umstellen, müssen Hygienevorschriften durchsetzen und dazu auch immer ihre eigene gesundheitliche Situation im Blick haben.

Die Schulen sind zum Teil wieder eröffnet worden. Wie bewertet ihr als GEW diese Entscheidung des Senats?
Zwiespältig. Einerseits ist es richtig, die Systeme schrittweise wieder zu öffnen, andererseits muss Unterricht völlig neu und unter neuen Hygienebedingungen organisiert werden. Wir sagen, „Bildung ist ein hohes Gut, Gesundheit ein noch höheres“ und kritisieren die aus unserer Sicht zu schnelle Öffnung.

Die 10. und 13. Klassen werden wieder in die Schulen geschickt, um ihre Prüfungen ablegen zu können. Besteht hier kein gesundheitliches Risiko?
Unter der Annahme, dass die Hygienevorschriften das gesundheitliche Risiko minimieren und der Voraussetzung, dass die hierfür notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden, ist eine schrittweise Öffnung machbar. Kritisch sehen wir, dass nicht pädagogische, sondern andere Kriterien bestimmen, welche Gruppen zuerst wieder in den Präsensunterricht kommen sollen. Statt der Abschluss- und Übergangsklassen sollten soziale Aspekte eine Rolle spielen und sozial schwache Schüler als erste wieder präsent unterrichtet werden.

Gibt es alternative Vorschläge von der GEW?
Wir fordern die Absage aller Prüfungen, da die Voraussetzungen hierfür aktuell sehr ungleich verteilt sind, Stichwort Zugang zu digitalen Ressourcen, Unterstützung der Eltern, etc. Es ist problemlos möglich, z.B. Abiturnoten auf Grundlage der bisherigen Oberstufenleistungen zu berechnen. Mit dieser Forderung sind wir als GEW nicht allein, auch Eltern- und Schülervertretungen vertreten diese Position.

Wie sind die Lehrer und Schüler von diesen Entscheidungen betroffen, kannst du uns von deinen Erfahrungen berichten?
Zu den Schülern kann ich wenig sagen. Bei den Lehrkräften zeigt sich eine hohe Verunsicherung, verbunden mit der Forderung nach Ressourcen insbesondere beim Gesundheitsschutz und bei der Digitalisierung. Die Lehrkräfte stören sich zudem an der wenig transparenten und noch weniger wertschätzenden Haltung des Schulsenators, der viel zu viel von Oben anordnet und die Mitbestimmung stark vernachlässigt.

Es laufen gerade Koalitionsverhandlungen zwischen der SPD und den Grünen in Hamburg. Gibt es neue Entwicklungen in Bezug auf Erziehung und Bildung? Welche Forderungen stellt ihr als GEW an den neu zu bildenden Senat?
Unsere zentralen Forderungen aus dem Wahlkampf wurden ein wenig überrollt durch Corona, bleiben aber bestehen. Hier ist insbesondere die materielle Aufwertung der Lehrkräfte an Grund- und Mittelschulen zu nennen – Stichwort „A bzw. E 13 für alle!“. Zudem fordern wir eine Überarbeitung des sogenannten Lehrer-Arbeitszeitmodells mit dem Ziel einer Entlastung für die Kollegen. Klar ist, dass nun die Themen Gesundheitsschutz und digitaler Unterricht einen völlig neuen Stellenwert bekommen, wozu wir viele Positionierungen abgegeben und an den Senat bzw. die Koalitionäre gesendet haben.

Wie sieht es gerade mit dem Lehrermangel aus?
In Hamburg gibt es ca. 400 Schulen, davon gut 200 Grundschulen sowie ca. 80 Gymnasien und Stadtteilschulen, darüber hinaus berufliche Schulen, spezielle Sonderschulen und die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ). Ca. 16.000 Lehrkräfte unterrichten zusammen mit knapp 2000 weiteren Pädagogen – die meisten von ihnen sind Sozialpädagogen und Erzieherinnen – gut 180.000 Schülerinnen und Schüler.

Wie schon vor der Corona-Krise fehlen Lehrkräfte insbesondere bei den schlechter bezahlten Grundschul-Kollegen und dort besonders bei den Schulleitungen. Dieses Problem ist aktuell noch verschärft dadurch, dass durch geteilte bzw. gedrittelte Klassen und viele Lehrkräfte aus Risikogruppen die Arbeit zunehmend ungleich verteilt wird. Die Folge ist eine Überlastung insbesondere der „fitten“ Kollegen. Hier ist Entlastung nötig, auch durch neu eingestelltes Personal!

Im Zuge der Pandemie wurde auf Online-Unterricht umgestellt. Welche Schwierigkeit bringt das mit sich?
Die Neu-Organisation des Unterrichts auf Online und nun schrittweise hin zu einem Mix aus Präsens und Digital stellt die Lehrkräfte vor enorme Herausforderungen. Neben der (fehlenden) technischen Ausstattung fehlen oftmals – sowohl bei Lehrkräften wie auch bei Schülerinnen und Schülern– die technischen Kompetenzen, die nun in einem Hauruck-Verfahren angeeignet werden müssen. Insbesondere die pädagogische Perspektive auf die benachteiligten Schüler belastet viele Lehrkräfte sehr und sie fragen sich, wie sie es schaffen, allen gerecht zu werden. Ein weiterer Aspekt ist die Entgrenzung der Arbeitszeit und die Schwierigkeit, die Widersprüche im Alltag – Stichwort Abstand halten vs. persönlich was erklären – auszuhalten.

Ist jeder Schüler bzw. sind die Familien ausreichend technisch ausgerüstet für den Online-Unterricht?
Nein, daher fordern wir unterstützende Maßnahmen insbesondere für Schüler aus sozial schwachen Elternhäusern. Die Coronakrise darf keine Bildungskrise werden und die soziale Spaltung vertiefen. Hier liegt noch viel Arbeit vor uns.

Der Beitrag Coronakrise darf keine Bildungskrise werden erschien zuerst auf Yeni Hayat.

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