Risikofreie Investition

Der bekannte Journalist und Moderator Michel Friedman hat gemeinsam mit der baden-württembergischen Integrationsministerin Bilkay Öney unsere Einladung angenommen, Gastchefredakteure dieser Ausgabe zu sein. Friedman ist in der Redaktionssitzung, in der die Nachrichten des Tages bestimmt und besprochen werden, die vorgelegten Themen einzeln durchgegangen. Er hat seine Aufgabe als Chefredakteur sehr ernst genommen und den Vorschlag die Visanachricht auf die Titelseite zu bringen als unzureichend abgelehnt. Bei der Suche nach der Schlagzeile des Tages hat er die Aufmerksamkeit auf das Thema Bildung in der jüdischen und türkischen Gesellschaft gelenkt. Nach einer spannenden Diskussion entschieden wir uns dafür, dass diese Nachricht ein interessantes Titelthema wäre. Herausgekommen ist ein wunderbares Gespräch mit Michel Friedman und Bilkay Öney über den Stellenwert der Bildung bei den Juden und den Türken.

Was ist Bildung?

Friedman: Bildung ist Wissen. Aber Wissen reicht allein nicht aus. Das Verstehen, das Einordnen des Wissens macht einen Menschen zum gebildeten Menschen.

Welchen Stellenwert hat Bildung im Judentum und bei den Türken?

Öney: Mir ist aufgefallen, dass in der jüdischen Bevölkerung Bildung als Wert an sich sehr früh erkannt wurde, weshalb viele jüdische Familien sehr viel Wert auf Bildung legen und das erklärt auch warum viele jüdische Menschen Erfolg haben. Türken nehmen Bildung zwar ernst, aber der Stellenwert könnte höher sein.

Friedman: Bildung ist wichtig, weil sie die größte Gefahr für die herrschende Klasse ist. Emanzipation! Das beginnt schon bei den Eltern. Gebildete Kinder stellen Fragen. Denn Bildung heißt Fragen stellen. Sie ist die größte Gefahr für Regierungen. Totalitäre sowieso. Demokratische aber auch. Der Mensch ist nicht mehr blind. Er hat Augen, die sehen. Ein Verstand, der funktioniert. Im Judentum ist Bildung die allerwichtigste Kategorie in der Erziehung. Wobei Bildung für mich nicht nur eine intellektuelle ist, sondern auch die emotionale Intelligenz ist. Junge Menschen in beiden Intelligenzfeldern auszubilden und dies zu vernetzen, das ist die Vorraussetzung für emanzipatorisches und emanzipiertes Leben.

Bisher sind Türken in Deutschland mit ihrer Arbeitskraft weitergekommen. Juden auf der ganzen Welt mit ihrer geistigen…

Friedman: Nein. Widerspruch. Auch mit ihrer Arbeitskraft. Es gibt viele Juden, die mit körperlicher Arbeitskraft unterwegs sind, …

Öney: , die Handwerker sind, …

Friedman: … aber ich würde diese Differenzierung nicht machen. Arbeit ist Arbeit. Ein Schreiner, der optimal gebildet und ausgebildet ist wird in seinem Fachbereich, aber auch darüber hinaus ganz anders kreativ und qualitativ arbeiten als jemand der das nicht so gelernt hat. Ich warne vor der Arroganz der sogenannten akademischen Eliten. Ich rate dazu alle Begabungen optimal zu fördern.

Wie können ungebildete Eltern gebildete Kinder erziehen?

Friedman: In dem die Sehnsucht nach Bildung Teil des eigenen Wertesystems wird. Meine Eltern waren im klassischen Sinne ungebildet. Warum? Weil die Nazis verhindert haben, dass sie Abitur machen konnten. Nichtsdestotrotz ist die Sehnsucht meiner Eltern nach Bildung, die sie selbst nicht erreicht haben, in der Familie weitergegeben worden. Das bedeutet, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes meine Eltern beeindrucken wollte. Ich wollte, dass sie stolz auch mich sind, wenn ich den Bildungsauftrag erfülle. Ich bilde mich nach wie vor weiter. Stillstand in Bildung ist Rückschritt.

Öney: Das ist der Tod. Ehrgeiz und Motivation müssen uns antreiben. Und keine Hemmungen! Viele Familien haben Hemmungen die Klasse zu überspringen. Frauen schränken sich sehr stark ein, weil sie gelernt haben in der Familie haben sie eine bestimmte Rolle und können nicht darüber hinauswachsen.

Friedman: Wir können daran ganz konkret anschliessen, dass in der Bundesrepublik, der Anteil der Frauen unter den Akademikern deutlich gestiegen ist. Aber in der Migrationsgesellschaft nur in Teilen. Vor allen bei denen, die türkischstämmig sind ist der Anteil der Frauen, die in akademische Berufe gehen wollen, die studieren wollen, noch sehr niedrig. Das hat mit Sicherheit nichts damit zu tun, dass diese Frauen dümmer sind als alle anderen.

Wie macht man Gastarbeitern klar, dass die Zukunft in der Bildung liegt?

Friedman: Ich will erstmal sagen, dass die Entwicklung mit allen Abstrichen und kritischen Betrachtungen eine Erfolgsstory ist. Die Großeltern war in der Regel deutlich weniger gebildet als ihre Enkel. Aber es reicht nicht. Die Investition in die Bildung ist die einzige Investition, die Inflationsgesichert ist.

Öney: Das setzt Ehrgeiz und Motivation voraus. Ohne geht es nicht. Es gibt aber auch Leute, die sagen: das reicht mir, was ich erreicht habe. Da kann man auch nichts machen. Aber es ist gut, wenn sie mehr wollen. Wir leben in Zeiten, wo man sich weiterentwickeln muss, weil die Zeit sich weiterentwickelt. Wir müssen lernen mit neuem Wissen, mit neuen Technologien umzugehen. Das erfordert von uns, dass wir uns selbst immer wieder uploaden.

Friedman: Eine Ministerin wie Du muss in die Schulen, zur Universitäten gehen und sagen: Macht mehr, lernt mehr, erreicht mehr!

Öney: Das machen wir auch. Wir sagen, dass sie keine Gastarbeiter mehr sind, dass sie ein Teil der Gesellschaft sind. Es geht mehr. Es ist mehr möglich. Wir wollen mehr.

Friedman: In Deutschland wird es immer Emigration geben. Deutschlands Zukunft ist auf Einwanderungen angewiesen. Deswegen geht es nicht nur um Integration, sondern um die Emanzipation aller Beteiligten.

Detaillierte Post auf SABAH AVRUPA – Die Türkische Tageszeitung.

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