Lesen Sie ihren Kindern keine Kinderbücher vor!

Ich lese sehr gern. Und ich lese überall: im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, in der Badewanne, im Bus, in der Bahn, in Cafés, manchmal auch heimlich bei der Arbeit, also bei jeder Gelegenheit. Neben den türkischen Klassikern liebe ich die Franzosen.

Während meiner Schwangerschaft war es toll. Ich konnte den ganzen Tag rumliegen, essen und Bücher verschlingen. Ich schaffte es sogar das Monumentalwerk “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust zu lesen, das mich seit ein paar Jahren wie ein schlechtes Gewissen verfolgte. Ich war glücklich, dann kam das Kind. Nicht das ich unglücklich war Mutter zu sein. Nein, aber der kalte Entzug von meinen Büchern machte mir doch zu schaffen. Ich war so sehr damit beschäftigt, einen Winzling zu füttern, zu windeln und durch die Gegend zu wiegen, dass ich nicht zum lesen kam. Aber bekanntlich macht Not erfinderisch und ich fand bald eine wunderbare Lösung. Während ich meine kleine Tochter Helen stillte, fing ich an zu lesen. Sehr entspannend. Für mich und für das Kind. Denn so konnte sie stundenlang an der Brust liegen und ich konnte dabei kapitelweise Bücher lesen.

Was für eine schöne Zeit, die jedoch nicht lange anhielt. Denn Kinder haben die komische Eigenart sich weiterzuentwickeln. Auch Helen tat dies. Sie war bald nicht mehr zufrieden damit, stundenlang gestillt zu werden, sie wollte auch Unterhaltung. Doch noch war ich klüger als sie. Bald hatte ich auch für dieses Problem eine Lösung. Ich las was ich las einfach laut. Helen hörte meine Stimme und freute sich, dass ich mit ihr redete. Dann fing ich an sehr monoton und eintönig zu lesen. Wunderbar, um Kinder zum schlafen zu bringen. Wichtig ist, dass die Stimme dabei keine Schwankungen hat und immer gleich langweilig bleibt. Dieses Buchleseritual hat sich bei uns durchgesetzt. Ich las und Helen schlief. Als wenig später Tolga geboren wurde, wuchs er mit dieser Tradition auf.

Ich las zu der Zeit sehr viel die französischen Existenzialisten wie Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Immer wenn die Kinder müde waren, kamen sie zu mir und fragten: „Mama, kannst Du uns Sartre oder Simone vorlesen?“ Natürlich tat ich das. Sie verstanden nichts von dem was ich da las, aber sie genossen es, meine Stimme zu hören, nur darum ging es. Als sie aber anfingen mit ein und zweieinhalb Jahren Worte wie Humanismus, Freiheitskampf oder Gleichberechtigung in ihre kindlichen Sätze einzubauen, beschloss ich, ihnen mehr Kinderbücher vorzulesen. Geht auch wunderbar, wenn die beiden nicht müde sind. Sie lieben die Klassiker der Kinderliteratur, aber zum einschlafen sind diese Bücher nichts. Weil die Kinder verstehen, was ich ihnen da vorlese. Fürchterlich. Müde Kinder werden hellwach und wollen wissen, warum Bären Fahrrad fahren können, warum Pippis Mutter tot ist, ob ich auch bald sterben werde, warum Michels Vater ihn verprügelt, ob ich sie auch schlage, wenn sie ihren Kopf irgendwo reinstecken. Fürchterlich, Alptraum, Einschlafterror.

Meine aufgelösten Kinder baten mich bald ihnen bitte wieder Tante Simone und Onkel Sartre vorzulesen, zumindest zum einschlafen. Was ich natürlich sehr gerne tat. Helen war fünf und Tolga vier als sie bereits die gesamten Werke der französischen Existenzialisten kannten, nicht verstanden, aber kannten.

Eines Tages gingen wir wieder in die Buchhandlung unseres Vertrauens. Ich brauchte Nachschub, die Kinder auch. Wenn ich so recht überlege, haben wir unser Geld sowieso immer dort gelassen, aber das tun wir immer noch gerne. Also gingen wir rein und die Kinder rannten los, um sich nach den neuesten Büchern umzuschauen. Plötzlich hielt Helen ein Buch hoch und rief durch den ganzen Laden: „Schau mal Mama, ein neues Buch mit Tante Simone und Onkel Sartre“. Sie hielt strahlend das Buch “Téte-a-tête: Leben und Lieben von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sarte“ in die Höhe und zeigte begeistert auf das Titelbild. Ich merkte plötzlich, wie die anderen Kunden mein Kind überrascht anstarrten als wäre sie ein Sonderling. Als dann auch noch Tolga sagte: „Ja Mama, das Buch von Simone und Sarte haben wir noch gar nicht gelesen.“ war die Verwirrung perfekt. Ich hörte einige anklagende und gleichzeitig beeindruckte Sätze wie: „Dressierte Affen!“, „Eiskunstlaufmutter“, „Wundergören“, „Die können bestimmt nicht lesen!“ usw. Die Leute hatten den Eindruck, dass meine Kinder hochbegabte Genies sind, doch sie irrten, meine Kinder sind ganz normal, ich bin nur schlau genug, um mich nicht von ihnen von meiner Lieblingstätigkeit abhalten zu lassen.

Candan Six-Sasmaz

Detaillierte Post auf SABAH AVRUPA – Die Türkische Tageszeitung.

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