Das Referendumsergebnis bürdet uns mehr Verantwortung
A. Cihan Soylu*
Bei dem Referendum über die Verfassungsänderungen in der Türkei kam das Ergebnis heraus, das sich die AKP-Regierung und die hinter ihr stehenden Kapitalkreise gewünscht haben. Bei einer Wahlbeteiligung von knapp 78 Prozent stimmten 58 Prozent den Verfassungsänderungen zu. Das Referendum fand am 12. September, also dem Jahrestag des Militärputsches vor 30 Jahren statt. Das ausgesuchte symbolträchtige Datum sollte signalisieren, dass man mit der Militärjunta und seiner Verfassung abrechne. Deshalb kann man bei diesem Ergebnis von einem wichtigen Sieg sprechen.
Dieses Ergebnis ist natürlich im Zusammenhang mit dem Grad des Bewußtseins der Arbeiterbewegung und ihrer Organisierung zu sehen. Es ist auch keine “Überraschung”, wie von manchen Kreisen propagiert wird. Vielfältige Kapitalkreise, verschiedene Parteien und liberale Intellektuelle scharten sich um die Regierung und die AKP, bedienten sich fast 90 Prozent der Medien, schöpften alle staatlichen Mittel aus und führten eine effektive, breit angelegte und irreführende Kampagne durch. Ihre Kampagne stand unter dem Motto: “Die Erneuerung der Verfassung ist der Schlüssel für riesige Fortschritte auf dem Weg der Demokratisierung!” Und diese Propaganda erzielte auch ihre Wirkung. Weite Teile der Bevölkerung, die seit Jahrzehnten unter dem politischen Joch der bürgerlichen Reaktion und Militärs standen, schenkten ihr Glauben.
Unmut wurde geschickt ausgenutzt
Der Unmut gegenüber Juntas, dem Druck der Militärs, den Angriffen und Verboten, für die die Generäle verantwortlich sind, wurde von der Regierung und den sie unterstützenden Kapitalkräften sehr geschickt ausgenutzt. Auch die im Vorfeld des Referendums verteilten finanziellen “Geschenke” und die Rentenerhöhung blieben nicht wirkungslos. Schließlich bediente man sich auch vielfältiger Drohungen und Druckmittel wie die einige Tage vor dem Referendum-Termin beschlossene Geldstrafe in Höhe von 22 Lira für Menschen, die der Abstimmung fernbleiben. Last but not least war die Haltung der im Parlament vertretenen Parteien, die die Verfassungsänderungen ablehnten, ein weiterer, für den Ausgang des Referendums wichtiger Faktor. Die AKP verstand es, aus der Propaganda der beiden Referendumgegnerinnen CHP und MHP Nutzen für sich zu ziehen. Die CHP-Führung nahm eine chauvinistische Haltung gegenüber den Forderungen des Volkes, insbesondere gegenüber dem Kampf der Kurden um nationale Gleichberechtigung. Die MHP tat sich als schlagkräftigste Komponente der rechten Reaktion hervor. Beide Parteien und sie unterstützende Kapitalkreise setzten sich mit aller Entschiedenheit für die Verfassung der Junta ein.
Dies führte dazu, dass die AKP aus dem Unmut weiter Bevölkerungsteile gegenüber der bestehenden Verfassung Kapital schlagen. Sie und die Regierung nutzten die extrem chauvinistisch-nationalistische und reaktionäre Haltung der beiden Parteien und ihnen nahestehenden Kreise und verstanden es, Zerrissenheit in deren Reihen hervorzurufen. Eine Gruppe innerhalb der MHP, die in Opposition gegen die Parteiführung steht, selbsternannte Liberaldemokraten aus CHP vermeintliche linksliberale Intellektuelle schlugen sich auf die Seite des Bündnisses von AKP, BBP und Saadet Partisi und verhalfen diese Front zum Sieg. Aus den seit langem andauernden Machtkämpfen wurde ein “Kampf zwischen Kräften, die für oder gegen den Status quo sind” konstruiert. Dies blieb für einen beträchtlichen Teil der sich als links-fortschrittlich und demokratisch definierenden Kräfte nicht wirkungslos. Diese Wirkung war für den Ausgang des Referendums genauso von Bedeutung wie die Geschicklichkeit der Befürworter-Front, die Wut weiter Bevölkerungsteile gegen Repression und faschistische Massaker zu instrumentalisieren.
Die Kurden lehnten die Regierungspolitik ab
Ein anderer wichtiger Aspekt des Ausgangs des Referendums ist, dass beträchtliche Bevölkerungsteile in den kurdischen Städten ihre Ablehnung der Politik von Regierung und ihren Unterstützern erneut klar gemacht haben. Der Boykott des Referendums in diesen Städten war der Ausdruck eines entschlossenen Eintretens eigener Forderungen. In Diyarbakir, Hakkari, Şırnak und anderen Städten, die sich im kurdischen Kampf hervortun, sendeten die Werktätigen an die Regierung und Staatsführung die Botschaft: “Entweder akzeptiert ihr unsere Forderungen; oder wir lehnen euch ab!” In den Städten und Regionen, in denen die Arbeiterbewegung etwas organisierter ist und deren Forderungen weitergehend sind, zeigte ein großer Teil der Werktätigen ihr Mißtrauen gegenüber der Regierungspolitik. Sie machten deutlich, dass sie den “Demokratie” -Lügen und Versprechen der Regierung keinen Glauben schenken. Fortschrittliche Teile der Werktätigen sagten Nein zu dieser Politik und diesen Intrigen. Diese Haltung ist gegenwärtig noch nicht ausreichend ausgeprägt und führend. Sie kann andere Bevölkerungsteile noch nicht mitnehmen. Trotzdem kann man feststellen, dass sie viel zur Verbreitung der Vorstellung beigetragen, dass politische Freiheiten, die man tatsächlich wahrnehmen kann, nicht von Parteien des Kapitals gewährt werden, sondern im Kampf gegen alle Kräfte des Kapitals erkämpft werden können.
Stärkerer Kampf notwendig
Dass diese Haltung sich möglichst stark auf den Ausgang des Referendums niederschlägt war auch wichtig, weil sie sich auch auf den weiteren Verlauf des Kampfes gegen die Regierungspolitik auswirken wird. Den gewünschten Erfolg konnte man nicht verbuchen. Das ist nicht unbedingt auf subjektive Gründe zurückzuführen, sondern mit den vorhandenen Voraussetzungen zu erklären. Es ist zu erwarten, dass die aus dem Referendum gestärkt hervorgehende AKP-Regierung jetzt ihre ungezügelten Angriffe fortsetzen wird. Die AKP-Führung wird den Staatsapparat entsprechend ihren eigenen politisch-ideologischen Vorstellung neu aufstellen oder auf eine Art neu konstruieren. Die Erwartung der Kräfte und liberalen Intellektuellen, die sich um die AKP geschart und eine “Demokratisierung” und rechtsstaatliche Regelungen zu Gunsten des Volkes erhofft haben, wird nicht erfüllt. Wir werden konfrontiert sein mit einer aggressiveren Politik. Deshalb wird jetzt die Verantwortung der Arbeiterklasse, der Werktätigen und ihrer Organisationen größer. Sie sind gefordert, den Kampf um politische Freiheiten und gegen Ausbeutung zu intensivieren.
Wir haben es hier mit einem ‘Konflikt’ zu tun, der zwischen den Vertretern des Kapitals an zwei Fronten ausgetragen wird. Es geht dabei darum, wer den Staatsapparat in den Händen hält und die Politik der herrschenden Klasse gegen das Volk durchsetzt. Teile der Werktätigen haben Schwierigkeiten dies zu erkennen. Deshalb ist heute die Notwendigkeit, eine Aufklärungsarbeit unter ihnen zu leisten und sie auf revolutionärer Basis zu organisieren, größer denn je.
*übernommen aus der Tageszeitung Evrensel
Detaillierte Post auf Yeni Hayat » Deutsch