Zum EM-Auftakt: Ein Rückblick auf das spannendste Spiel in der Geschichte der EM!

Am 08.06.2012 fängt um 16:00 Uhr mit dem Eröffnungsspiel zwischen dem Co-Gastgeber Polen und dem Europameister von 2004 Griechenland die Fußball-EM an. Fußballfans aus der gesamten Welt werden ihre Blicke auf die Spiele richten, hoffen, bangen, mitzittern……und mindestens eine Mannschaft vermissen, die bei der letzten Austragung für das HIGHLIGHT des Turniers gesorgt hat: Die Türkische Nationalelf.

Nicht das souverän aufspielende spanische Team um Puyol, das die Gegner zum Teil an die Wand spielte, sondern die Mannen um Fatih Terim lieferten die Spiele ab, die in die Geschichte des Fußballs eingingen. Sie reihten sich nahtlos ein an Spiele wie Deutschland Italien 1970, Deutschland – Frankreich 1982, Frankreich – Brasilien 1986, Tschechien – Holland 2004. Und an DAS Spiel des Turniers möchte ich an dieser Stelle erinnern: Türkei – Tschechien am 15.06.2008 in Genf.

Selbst die Vorzeichen dieses letzten Spiels der Gruppe A waren ein Unikum: beide Teams waren punkt- und torgleich. Im Vorwege hatte die UEFA beschlossen, dass bei einem Unentschieden nach 90 Minuten erstmalig ein Elfmeterschießen den Gruppenzweiten,  und somit den zweiten Viertelfinalteilnehmer, bestimmt hätte; und das direkt ohne vorherige Verlängerung.

Die Voraussetzungen für ein spannendes Spiel waren also gegeben. Allerdings haben ja solche Entscheidungsspiele zur Folge, dass beide Mannschaften ein sehr unansehnliches Spiel abliefern. Nicht aber hier. Die Erwartungen wurden nicht nur erfüllt, sie wurden turmhoch übertroffen:

Das Spiel fing mit leichten Vorteilen für die Tschechen an, die ein ums andere Mal die in rot spielenden Türken in die Defensive drängen konnten. Schließlich war es der bullige Jan Koller, der eine Flanke von Grygera per wuchtigem Kopfball vom Elfmeterpunkt in den linken Winkel verwandeln konnte. Zwar war die Elf vom Bosporus sichtlich geschockt, dennoch versuchte sie nun die Offensivbemühungen zu steigern. Sie verstand es zusehends besser Chancen zu kreieren, die allerdings ergebnislos verpufften. So ging die erste Halbzeit vorbei.

Dann wurden die besten 45 Minuten angepfiffen, die ich als Fußballfan je sehen durfte. Obwohl die TFF-Elf immer besser Ball und Gegner beherrschten, waren es die Zöglinge von Karel Brückner, die in der 62. Minute nach einem Konter knochentrocken zum 2:0 erhöhten. Sionko hatte sich auf der rechten Seite durchgesetzt und Jaroslav Plasil konnte ungehindert aus 5 Metern einnetzen.

Doch dann wendete sich das Blatt. Zunächst mit Glück. Denn als dann in der 71. Minute Pollak den Pfosten traf und anschließend von Emre Asik elfmeterreif gefoult wurde, blieb der eigentlich berechtigte Elfmeterpfiff aus, was das 3:0 und somit das sichere Aus für die Türken bedeutet hätte.

Ein weiterer Grund für die Geschehnisse ab der 75. Minute war, dass die Milli Takım  etwas beherzigt hat, was man in einer türkischen Mannschaft noch nie gesehen hatte: Sie glaubten an ihren Erfolg, an ihre Leistungen, sie blieben sich treu, sie blieben cool. Denn statt wie früher nach einem Rückstand hektisch und kopflos in die gegnerische Abwehr anzurennen, sicherten sie weiterhin effektiv nach hinten ab und setzten immer wieder mit einer stoischen Ruhe und der nötigen Leidenschaft zu Angriffen an. Und sie hatten das Glück, dass sie Hamit Altıntop in ihren Reihen hatten. Denn er war es, der sich in der besagten 75. Minute  halbrechts im Strafraum freispielte, in den Rücken der Abwehr fast blind spielte, in Arda Turan einen Abnehmer fand, der links unten flach aus 15 Metern einschob. Die Tschechen wurden langsam nervös, statt eines 3:0 nun ein 2:1!!

Und nur noch 15 Minuten bis Wien!!!

Und die Türken erhöhen das Tempo. Das Stadion, sowieso mehrheitlich in türkischer Hand, schreit, platzt aus allen Nähten: „Burası Türkiye, buradan cıkış yok!“ skandieren sie im Chor. Angriff über Angriff rollt über den Abwehrchef Uyfalusi, der es aber nicht verhindern konnte, dass zum Beispiel der Abwehrchef der Türken, Servet Çetin in der 82. Minute fast das 2:2 geköpft hätte. War´s das? Gibt es keine Chance mehr???

Dann die 87. Minute. Der weltbeste Torhüter lässt nach einer Altıntop-Flanke den Ball vor die Füße von Nihat fallen, der reagiert blitzschnell und schiebt ein ins leere Tor! Der türkische Reporter schreit: „Nihat, Nihat, Nihat. Gol, gol, gol. Iki iki, iki iki, iki iki!“ Ich stehe vorm Fernseher auf und schreie, lache und weine gleichzeitig (das tue ich jetzt beim Schreiben fast schon wieder), meine Frau versucht mich zu beruhigen. „Psssst, die Kinder schlafen!“

Ich höre sie nur schemenhaft. Ich kann nicht aufhören, ich schreie, ich weine, meine Hände vor meinem Gesicht. Jahrzehntelanger Frust scheint wie weggeblasen. Fatih Terim in seinem durchgeschwitzten hellblauen Hemd. Die Zuschauer im Stadion. Das rote Fahnenmeer. Sakin, ruhig. Nicht überhastet agieren. Elfmeterschießen!!!

Aber dann, oh Gott, was macht Altıntop? Altıntop zum Dritten!!! Er spielt Nihat erneut frei, halblinks am 16er. Nihat, unser Fußballgott, steht mit dem Rücken zum Tor, dreht sich blitzschnell mit dem Ball um, hat nur noch Czech vor sich, visiert den Winkel, schießt den Ball rechts am Torhüter vorbei, aber etwas zu hoch, oder? Der Ball streift die Unterlatte, geht hinter die Linie und zappelt im Netz!!!!!!!!!!! Nihat läuft, wirft sich zu Boden, die übrigen Spieler werfen sich auf ihn. Onlara kurban olam!!! Ich weine, ich lache, ich schreie!!! Meine Kinder schlafen, wo sind meine Zigaretten, ach nein, ich bin Nichtraucher…..Ich liebe es, Türke zu sein!!! Meine Gedanken schlagen Kapriolen.

Was macht der Linienrichter? 3 Minuten Nachspielzeit!! Was?? Warum das denn?? Pfeif ab!!!! Bitte!!!! Aber Nein, Jan Koller, das Ungetüm, steht vor Volkan, kriegt den Ball… und köpft daneben… Puh!!

Dann, nein, was ist das denn??? Meine Nerven!!!! Volkan muss vom Platz!!! Er hat sich zu einer Tätlichkeit hinreißen lassen. Volkan, ne yaptın??!! Rote Karte!!! Die Türken dürfen nicht mehr auswechseln, also muss ein Feldspieler ins Tor. Tuncay!! Jeder noch so harmlose Schuss auf das Tor birgt jetzt Gefahr!! Oh, Gott, bitte nicht! Lass keinen Tschechen vors Tor kommen! Wie lange noch? Aber dann beendet der Schiedsrichter das Spiel. Dafür hat er für alle Zeiten einen Stein bei mir im Herzen! Und dann waren die Dämme gebrochen!!!

Kein Elfmeterschießen, wir sind im Viertelfinale!!!

Ich rufe meine Eltern in der Türkei an, wir weinen alle! Papa, Mama, ich rufe meinen Onkel an, wir lieben uns alle! Dann rufe ich meinen besten Kumpel in Buenos Aires mit meinem Handy an. Kosten? Scheißegal. Ich beschimpfe ihn in allen Sprachen, die mir zur Verfügung stehen, weil er den türkischen Fußball immer niedergemacht hatte. Auch er lacht!

Meine liebe Freundin schreibt mir per SMS: What a match!!! Ich halte irgendein Auto an, das mich zur Reeperbahn fährt. Da sind sie, meine lieben Türken. Alle dürfen sie mir an die Brust. Wildfremde Menschen liegen sich jubelnd in den Armen und singen „Ölürüm Türkiyem!!“ Und ich bin dabei. Ich bin Zeitzeuge! Möge dieser Abend nie vorbeigehen! Am 08.06.2012 fängt erneut die EM an, und nach dieser Erinnerung hoffe ich inständig, dass uns solche Spiele nicht vorenthalten bleiben; auch wenn die Türkei nicht dabei ist und nicht wenige sie vermissen werden!!!

Cinar Ciftlik

Detaillierte Post auf SABAH AVRUPA – Die Türkische Tageszeitung.

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