Zehn Jahre Agenda 2010: Miese Arbeit – “billig wie Dreck”

Fred Schmid *

 

Ein „Jobwunder“ habe sie bewirkt, Schröders soziale Konterreform, die er vor zehn Jahren im Bundestag präsentierte. So viele Jobs wie noch nie, zwei Millionen Beschäftigte (1,7 Millionen Arbeitnehmer mehr) mehr als im Spitzenjahr 2000 und weniger Arbeitslose. Wundert man sich allerdings, ob der Arbeitsleistung dieser Mehrarbeiter, denn das Gesamtvolumen der geleisteten Arbeitsstunden ist gleich geblieben (+0,25 %). Der Grund?! Immer mehr Menschen arbeiten in zerstückelten, atomisierten Beschäftigungsverhältnissen. Das Proletariat wurde zunehmend zum Prekariat. Mini-Jobber gibt es in der heutigen Form erst seit 2003, die fünf Millionen ausschließlich geringfügig Beschäftigten werden in der Arbeitsstatistik als Vollbeschäftigte erfasst. Selbst Ein-Euro-Jobs werden so mitgezählt. Die Zahl der in Teilzeit arbeitenden Frauen und Männer hat sich in den vergangenen 15 Jahren auf 8,7 Millionen verdoppelt. Arbeitslose wurden mit staatlichen Mitteln in Ich-AGs gedrängt;

seit dem Jahr 2000 gibt es 800.000 Solo-Selbständige mehr – Durchschnittsverdienst 13 Euro die Stunde. Die Leiharbeit hat sich seit 2003 von 328.000 auf über 900.000 verdreifacht. Immer mehr Beschäftigte werden zu Lückenbüßern, die Arbeitenden zum total flexibilisierten „Anhängsel der Maschine“ (Marx).

Hartz IV, das Herzstück der Agenda 2010, zwingt Arbeitssuchende in prekäre Beschäftigungsverhältnisse, nötigt ihnen jede Arbeit als zumutbar auf. Mit der Folge, dass immer mehr Billig-Jobs entstehen und der Niedriglohnsektor sich signifikant ausweitet. Vier Millionen Menschen arbeiten für einen Bruttoverdienst von weniger als sieben Euro, mehr als ein Fünftel aller Beschäftigten arbeitet im Niedriglohnbereich: zehn Euro und weniger. Arbeit wurde „billig wie Dreck“, wie es der Soziologe Horst Afheldt bereits vor mehr als einem Jahrzehnt prophezeite.

Immer mehr Menschen können von ihrer Arbeit, ihren Hungerlöhnen nicht mehr leben. „Arm trotz Arbeit“ wurde zu einer Massenerscheinung, „Arbeitsarmut“ zu einem gängigen Begriff. Vor allem auch deshalb, weil alle Bundesregierungen Mindestlöhne kategorisch ablehnten und damit der Verbilligung der Arbeit keine Grenzen setzten. Stattdessen zahlt der Staat Aufstockung gegen das Verhungern, subventioniert die Wirtschaft auf Kosten der Gesellschaft und schwächt damit die Gewerkschaften. Die zyklisch schwankende „industrielle Reservearmee“ aus dem 19. Jahrhundert wurde ersetzt durch das stehende Zwanzig-Millionen-Heer des Prekariats: Zusammen mit den Arbeitslosen macht es die Hälfte der Erwerbspersonen aus. Dieses wird eingesetzt, um die Ware Arbeitskraft noch mehr zu verramschen, solide Arbeitsverhältnisse zu sprengen. Es dient als Kanonenfutter für die deutschen Exportschlachten.

 

Menschen wie Dreck behandelt

Mehr noch. Mit der Losung „fordern und fördern“ wurde die Hartz-IV-Regelung anfangs propagiert. Herausgekommen ist ein fordern ohne fördern. Gefordert wurde grenzenlose Zumutbarkeit, die Bereitschaft, berufliche Qualifikationen und erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten auf den Müllhaufen zu werfen und mit dem Schild herumzulaufen: „Ich nehme jede Arbeit an“. Gefördert wurde nicht Höherqualifizierung, sondern berufliche und arbeitsmäßige Degradierung und Deklassierung. Den Menschen wurde der Stolz auf ihren Beruf genommen und ihre Würde dazu. Sie wurden und werden schikanös und wie Dreck behandelt.

Arbeitslose haben heute gewissermaßen die Wahl zwischen „Arm durch Arbeit“ als Billiglöhner oder „Arm durch Gesetz“ als Hartz-IV-Empfänger. Hartz-IV wurde inzwischen zum Synonym für Armut. Die Regelsätze sichern gerade mal das physische Existenzminimum, das nackte Überleben. Aber selbst dafür müssen die Bedürftigen sich ausziehen bis aufs Hemd, ihr wenige Erspartes und freiwillige Altersvorsorge offenbaren und erst verscherbeln. Dazu Verdächtigungen und „Missbrauchs“vorwürfe, Schnüffeleien bis ins Schlafzimmer. Und das alles für ein Almosen. Es bedurfte erst eines Urteils des Bundesverfassungsgerichtes (Februar 2010), um festzulegen, dass Hartz-IV-Empfänger ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdiges Existenzminimums haben und es verpflichtete den Staat, dieses Minimum zu garantieren zu konkretisieren. Die Hartz-IV-Regelsätze und ihre Festlegung entsprechen bis heute diesen Anforderungen nicht. Sie

sind mit dem Grundgesetz unvereinbar, verfassungswidrig. Sie ermöglichen den Empfängern keine Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Zur beruflichen Deklassierung kommt so die Exkludierung, die Ausgrenzung der Menschen aus der Gesellschaft. Sie werden abgeschoben.

Hartz-IV, das ist heute die Bezeichnung für die Rutsche, die Arbeitslose nach einem Jahr in die Armut führt. „Dieses Gerät hat das soziale Netz ersetzt“, schreibt der Innenressortchef der Südd. Zeitung, Heribert Prantl (SZ, 9.3.13). „Es ist bezeichnend, dass sich die Zahl der Tafeln, an der Bedürftige Lebensmittel erhalten, seit der Agenda vervielfacht hat. Diese Agenda wird heute südeuropäischen Staaten als Gesundungsrezept angedient: Privatisierung, Deregulierung, Prekarisierung. Die Agenda nun also für Europa? Man soll aus Fehlern lernen; man soll sie nicht repetieren, potenzieren, europäisieren“.

 

 

* Dieser Kommentar ist entnommen aus isw-wirtschaftsinfo “Bilanz 2012 – Ausblick 2013 / Bilanz der schwarz-gelben Bundesregierung”, das Mitte April 2013 bei isw (http://www.isw-muenchen.de) erscheint.

Detaillierte Post auf Yeni Hayat – Neues Leben » Deutsch

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