Unser digitalisiertes Leben
Unser digitalisiertes Leben
Tonguç Karahan
Corona hat unser alltägliches Leben weitestgehend verändert. Gleichzeitig kamen mit Corona viele Neuheiten in unseren Alltag. Millionen Menschen machten erste Bekanntschaften mit dem „Home Office“, Video-Konferenz-Apps, deren Namen wir vorher nicht mal kannten, sind nun alle auf unseren Smartphones. Sogar in Museen am anderen Ende der Welt können wir nun von Zuhause aus durchstöbern. Mit einem Klick ist jeder Laden in unserem Wohnzimmer. Unsere Kinder gehen nicht in die Schule, die Schule kommt zu ihnen.
Diese Liste mit den Veränderungen in unserer Lebensweise kann noch verlängert werden. Aber zusammengefasst hat die digitale Welt mit dem Coronavirus eine neue Bedeutung gewonnen. Natürlich hat die Digitalisierung unseres Lebens nicht erst mit dem Coronavirus begonnen, doch haben diese vergangenen zwei Monate diesen Prozess extrem beschleunigt. So hat sich alleine in den ersten beiden Märzwochen die Anzahl der Videochats um 50 % gesteigert. Von Januar bis Ende März diesen Jahres sind die Onlinebestellungen um 88 % gestiegen. Genauso hatten auch Nachrichten-Apps, Streamingplattformen und soziale Netzwerke höhere Abo- und Verbrauchszahlen.
DER AUFSTIEG DER DIGITALISIERUNG
Nach dem 2. Weltkrieg hat sich die Computer-Technologie Schritt für Schritt weiterentwickelt. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurde das Internet allmählich für die breite Bevölkerung zugänglich, nachdem es zuvor von bestimmten imperialistischen Staaten für die Kommunikation vor allem im militärischen Bereich genutzt wurde.
Im Jahr 1995 benutzte gerade einmal 1 % der Weltbevölkerung das Internet, 2005 waren es 16 %, im Jahre 2010 schon 29 % und 2016 haben bereits 46 % das Internet genutzt. Schätzungen gehen davon aus, dass die Zahl im Jahr 2020 bei etwa 60 % der Weltbevölkerung liegen wird.
Und zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat quasi alles, was wir in der materiellen Welt berühren, fühlen, riechen usw. können ein digitales Äquivalent. Dinge, Mittel, Objekte, selbst Bewegungen. Die Digitalisierung hat praktisch eine „zweite Welt“ geschaffen.
GIBT ES ZWEI VERSCHIEDENE WELTEN?
Um uns diese „neue Welt“ als Gegenteil der ersten Welt vorzustellen und sie von ihr abzugrenzen, erfanden wir Definitionen, wie „real und unreal“, „echt und virtuell“ und „wahr und erfunden“. Aber gleichzeitig fingen wir an, von der Arbeit bis zur Bildung, vom Einkaufen bis zum Reisen, von Freundschaften bis zu Essgewohnheiten – also unser ganzes Leben – in dieser „unrealen, virtuellen und erfundenen“ Welt zu leben.
Der Grund für diese Illusion ist, dass davon ausgegangen wird, dass die analoge und die digitale Welt einander entgegenstehen, voneinander losgelöst und „zwei verschiedene Welten“ sind. Doch so wie in der Vergangenheit, gibt es heute immer noch nur eine Welt. Das Digitale ist nicht unreal, erfunden oder alleinstehend und beschreibt lediglich das Spiegelbild der von uns unabhängig existierenden materiellen („analogen“) Realität.
DIE ERSTEN MODELLE DER DIGITALISIERUNG
Die Herkunft des Wortes digital („Ziffer“) deutet schon darauf hin, dass die Objekte, Handlungen, Signale und Prozesse der materiellen Welt in nummerische Codes umgewandelt wurden. Also kann alles Materielle oder Gedankliche, was wir in unserem Umfeld sehen, berühren oder fühlen digitalisiert, also mit numerischen Codes beschrieben werden. Aber dadurch entsteht keine neue Welt, kein zweites Objekt, kein zweiter Prozess oder keine zweite Bewegung, sondern die bestehenden Dinge werden lediglich durch Zahlencodes abstrahiert.
Diese Prozesse der Abstrahierung und der Reflexion sind für die Menschen jedoch nichts Neues. Um sowohl die Objekte, Ereignisse und Bewegungen, die wir in der Natur sehen, als auch unsere eigenen Prozesse (Gefühle, Verhaltensweisen, Bedürfnisse) zu verstehen und wiedergeben zu können, haben wir unterschiedliche Mittel und Methoden erfunden, um Objekte und Bewegungen um uns herum mit Zahlen oder Buchstaben zu kodieren, um eine neue „abstrakte, widergespiegelte Welt“ zu erschaffen, die auf der realen Welt beruht. Wenn wir beispielsweise „Apfel“ schreiben, beschreiben wir nicht „etwas Erfundenes, Unreales oder Falsches“, sondern etwas, das existiert und dessen abstrahierte, mit Buchstaben kodierte Widerspiegelung. Und deshalb müssen wir, wenn wir einen Apfel wollen, nicht ständig ein Exemplar davon bei uns tragen, um zu zeigen, was wir möchten!
DAS WUNDER VON „0“ UND „1“
Was es unserer digitalen Welt ermöglicht, sich in diesem Maße auszudehnen, ist die sich ständig entwickelnde Computertechnologie. Diese hat zur Folge, dass eine Prozessorkapazität erreicht wurde, die es ermöglicht, Codefolgen zu entwickeln, sie einzusetzen und zu speichern. Wenn wir es mit den Anfängen des Internets vergleichen, war der Datenverkehr damals wie ein Trampelpfad in den Bergen. Heute ist er eine fünfspurige Autobahn. So wie die Prozessorkapazität und –geschwindigkeit rasant zunimmt, sorgt jedes Ereignis oder jede Bewegung in der analogen Welt sofort und mit Milliarden Vernetzungen zu einer digitalen Umsetzung.
Unsere physische, analoge Welt mit numerischen Codefolgen auszudrücken, schafft keine neue Welt oder kein neues Universum, aber wir beginnen viel schneller zu leben. Wir können schneller verbrauchen, lernen, sehen oder Verbindung zu anderen aufbauen. Aber so wie wir einfacher an mehr Informationen kommen, können uns auch mehr Lügen begegnen. Tausende Freunde auf sozialen Plattformen zu haben, kann auch dazu führen, dass wir gleichzeitig vereinsamen. Während einerseits die Vorkehrungen gegen Epidemien effektiver werden, können andererseits effektivere Waffen eingesetzt werden, die die Welt zerstören können.
ES GEHT EIGENTLICH DARUM, DIE WIDERSPRÜCHE DER ANALOGEN WELT ZU ÜBERWINDEN
Die Digitalisierung hat einen großen Einfluss auf unsere Lebensweise. Sie eröffnet neue Möglichkeiten und diese Möglichkeiten werden sich noch erweitern. Die Corona-Pandemie hat den Prozess nochmal beschleunigt. Der Einfluss der digitalen Welt auf unser Leben ist allerdings keine Einbahnstraße. Sie bringt sowohl Positives, als auch Negatives. Das heißt unsere Welt und unser Leben wird wegen der Digitalisierung weder untergehen noch gerettet werden. Denn wir leben nicht in zwei voneinander losgelösten Welten, sondern in einer einzigen. Ob die Menschheit untergeht oder sich rettet, hat mit dem zu tun, was in der einen Welt passiert oder eben nicht passiert.
Von der Bildung zur Arbeit, von der Wissenschaft zur Kultur oder zum Sport: die Art und Weise wie wir leben, ist dabei, sich extrem zu verändern. Aber wenn es darum geht, wie das Wesen, der Inhalt und die Qualität dieses Lebens aussehen wird, läuft alles auf ein „analoges Problem“ hinaus. Es ist verbunden mit den Widersprüchen dieses Systems, das auf Ungleichheit, Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Konkurrenz angelehnt ist. Was dies aufhebt, werden nicht numerische Codefolgen sein, sondern der Klassenkampf zwischen Ausgebeuteten und Ausbeuter, zwischen Unterdrückten und Unterdrücker, zwischen Arbeit und Kapital.
Übersetzung/Überarbeitung von Alev Bahadir
Der Beitrag Unser digitalisiertes Leben erschien zuerst auf Yeni Hayat.
Detaillierte Post auf DEUTSCH – Yeni Hayat