Am Ufer eines Flusses
Am Ufer eines Flusses
Nuray Sancar
Zwei Umfrageergebnisse, die in letzter Woche veröffentlicht wurden, deuten auf eine Schwelle hin, an der die Gesellschaft heute steht: Nach der ersten Umfrage von SODEV (Stiftung der Sozialdemokratie) unter Jugendlichen ist ein Viertel von ihnen arbeitslos. 25,7 % der Jugendlichen stehen in keinem Ausbildungs- und Beschäftigungsverhältnis und 70 % in wirtschaftlicher Abhängigkeit von der Familie. Und das Wichtigste: unabhängig davon, welche Partei sie wählen, würden mehr als 62 % der Jugendlichen ins Ausland gehen, wenn sie die Möglichkeit hätten. Bei den AKP-Wählern liegt ihr Anteil immerhin bei 47,5 %.
Bei der zweiten Umfrage mit der Überschrift „Bericht über die Forderung nach Demokratie in der Türkei“ wurden über 250.000 Menschen vom Checks-And-Balances-Network persönlich befragt. Danach fühlen sich über 40 % der Befragten als „Bürger zweiter Klasse“. Folglich wird „Gerechtigkeit“ zur wichtigsten Forderung. Nach Ansicht des KONDA-Geschäftsführers Bekir Ağırdır zeigt der Bericht, wie „zwiegespalten“ die Gesellschaft ist: „Einerseits wünschen wir uns eine bessere Welt. Andererseits wollen wir aus Furcht vor Schlechterem das Jetzige bewahren. Die Menschen in der Türkei stecken zwischen ‚Sicherheit‘ und ‚Freiheit‘ fest. Sie stehen am Ufer eines Flusses und sehen die Reichtümer am anderen Ufer. Sie sind sich aber unsicher, ob sie auf die andere Seite schwimmen können. Das Vertrauen in das eigene Können fehlt ihnen.“
Der Anteil von jungen Menschen an dieser „zwiegespaltenen Gesellschaft“, die einerseits ihr Elternhaus verlassen wollen, zu dem sie aus wirtschaftlichen und traditionellen Gründen enge Bindungen haben, ist sehr hoch. Andererseits haben sie Angst, den Spatz in der Hand zu verlieren und können deshalb nicht den Mut aufbringen, um nach der Taube auf dem Dach zu greifen. Diese Zwickmühle, in der sie stecken, bereitet den Herrschenden als Bewahrer der konservativen Werte schlaflose Nächte. Denn Massen, die nach mehr streben, kann man nicht mehr so einfach lenken.
Die Politik der Polarisierung, die bis vor kurzem noch funktioniert hat, funktioniert an dem Flussufer, an dem sich Arbeitslose, Unglückliche und Unfreie gesammelt haben, nicht mehr. Der Wunsch nach Flucht ins Ausland ist Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit. Und diese herrscht nicht nur in den feindlichen Reihen. Allerdings vertieft sich die Ausweglosigkeit, weil sie nicht imstande ist, die verlorene Motivation zu ersetzen.
Sicherlich zeugt es von einer bitteren Hilfslosigkeit, wenn man glaubt, den laut den Umfrageergebnissen fehlenden Glauben an die „Demokratie im Land“ mit der neuesten Debatte über vorgezogene Neuwahlen wiederbeleben zu können. Dass die Opposition ihre Hoffnung ausschließlich in die Neuwahlen setzt, sei hier nur am Rande erwähnt.
Die entfachte Debatte darüber sollte niemanden zum Irrglauben verleiten, diese Roadmap der Neuwahl würde die Regierungskräfte erfolgreich aus der Krise führen. Dann auch in ihren Reihen herrscht der Zwiespalt und sie fragen sich, was besser ist: der Spatz oder die Taube? Mit steigenden Bedenken bei der Bevölkerung wird auch ihre Angst größer. Und mit der größer werdenden Angst wird auch der Preis größer, den die Bevölkerung bezahlen muss. Die Zeit der Corona-Krise versucht sie, für sich zu nutzen. Deshalb ähneln die derzeitigen Beschlüsse einem großen Experiment an der Bevölkerung mit unsicherem Ausgang.
In dieser Zeit hatte man der Bevölkerung Ausgangssperren auferlegt, die nach Belieben wiederholt oder aufgehoben wurden. Dass man hier auf gesamter Linie das erwünschte Ergebnis erzielt hätte, ist eher fraglich. Man hatte versucht, die Botschaft zu senden: Niemand solle auf die Idee kommen, auf das andere Flussufer schwimmen zu wollen. Die brutale Verfolgung der Verstöße gegen die Ausgangssperren sollte jeden das Fürchten lehren: Gebt euren Traum von einem anderen Leben auf!
Ja, die Erfahrungen, die die Bevölkerung in der Corona-Zeit gemacht hat, haben die Menschen vieles gelehrt. Sie haben gesehen, wie brutal die Herrschenden mit ihrem Traum von einer besseren Zukunft umgehen. Das einzige, was ihnen übrigbleibt, ist ihr Überlebenswunsch. Das wiederum macht sie furchtloser und nimmt ihnen die Zukunftsängste oder den Wunsch nach Flucht ab!
Der Beitrag Am Ufer eines Flusses erschien zuerst auf Yeni Hayat.
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